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Praxisschulung oder reine Lehre

■ In der Berufungs- und Strukturkommission wird über die neue Struktur der Wirtschaftswissenschaften an der Humboldt-Uni gestritten/ Ist mehr Praxisorientierung oder mehr Theorie notwendig?

Mitte. Soll man reine Forschung oder Managerschulung für den Aufbau der ostdeutschen Wirtschaft betreiben, für die freie Marktwirtschaft oder für staatliche Eingriffsmöglichkeiten eintreten — die ehemals abzuwickelnden WirtschaftswissenschaftlerInnen an der Humboldt- Universität (HUB) müssen sich entscheiden, wie sie den Fachbereich im Zuge der Neustrukturierung ausrichten wollen.

»Wenn wir in vier Jahren Absolventen hervorgebracht haben, die mit vier oder fünf Differentialen rechnen können, aber nicht wissen, was eine Gewerkschaft ist, ist doch niemandem gedient«, findet Institutsdirektor Rudolf Mondelaers. Die Universität trage eine Verantwortung für das ostdeutsche Territorium, und da seien zunächst einmal ökonomische Probleme zu lösen. Er setzt daher auf die Priorität der Praxis vor der Theorie und der Lehre vor der Forschung.

Der aus Bonn importierte Kommissionsvorsitzende Wilhelm Krelle, ein 75jähriger Emeritus der Volkswirtschaftslehre, will sich da noch nicht so festelegen. Sein Gesamtkonzept für den Fachbereich stehe fest und sei auch schon von allen Seiten abgesegnet. Neben Grundlagenfächern wie Statistik, Operations Research oder Wirtschaftsgeschichte sind ein volkswirtschaftlicher und ein betriebswirtschaftlicher Studiengang geplant. Darin gebe es sowohl stärker theoretisch als auch praktisch orientierte Bereiche. Es hänge aber auch von denen ab, die auf die Lehrstühle berufen werden. »Wir gehen da strikt nach Leistung«, sagt Krelle. »Wir suchen uns in jedem Fach die Besten raus, und wenn der Beste ein Theoretiker ist, nehmen wir ihn genauso, als wenn er mehr anwendungsorientiert ist.«

In den Bewertungen schlage sich allerdings durchaus die neoklassische und mathematische Ausrichtung Krelles nieder, stellt Jens Barthel fest, der als studentischer Vertreter in der Kommission sitzt. Doch werde jedesmal so lange diskutiert, bis man sich einig sei. Auf einer Liste sei sogar ein Keynesianer auf Platz eins gelandet. Für die Studierenden werde die Neustrukturierung auf jeden Fall ein Schritt hin zu mehr Theorie sein. »Bei uns wurde sehr viel mit Beispielen und wenig abstrakt gelehrt. So etwas wie Differentialrechnung kam überhaupt nicht vor, die Ökonomie hatte eine ganz andere Struktur.«

Um seine praxisorientierte Position zu untermauern, hatte Mondelaers noch im letzten Jahr Francis Aguilar, Professor an der Graduate School of Business-Administration der Harvard Universität eingeladen. In einem Vortrag erläuterte dieser das Konzept, nachdem dort künftige Top-ManagerInnen ausgebildet werden. »Unser Job ist es, den Studenten und Studentinnen zu zeigen, wozu es gut ist, was sie lernen sollen. Wir müssen die Inhalte für sie übersetzen«, sagte Aguilar. Die pädagogischen Methoden müssen dem Ziel der Ausbildung angemessen sein, welches immer in der Verbesserung des Managements besteht. Die Studierenden sollen lernen, in konkreten Fällen komplexe Zusammenhänge zu durchschauen, Strategien zu entwickeln und Risikobereitschaft zu zeigen. Die Studierenden sollen anhand von Fallstudien sowohl die betriebs- und volkswirtschaftlichen Grundlagen kennenlernen als auch Fähigkeiten und Verhaltensweisen entwickeln, die sie als KonzernleiterInnen brauchen werden: »Es macht keinen Sinn, nur eine hervorragende Theorie zu entwickeln, während draußen die Wirtschaft kollabiert.« Aguilar befürchtet zudem politische Desaster, wenn nicht Lösungen für die akuten ökonomischen Probleme Osteuropas gefunden werden. Entsprechend sollte auch Wert auf die Lehre im Sinn einer Ausbildung zum Umgang mit diesen Problemen gelegt werden.

Bislang ist noch alles offen — obwohl die ersten Berufungslisten schon im September fertig waren, ist noch nicht ein Ruf ergangen. Erst blieben die Listen im Akademischen Senat hängen und jetzt hat die Frauenbeauftragte der Landesregierung Einspruch erhoben. Auf den vorliegenden zehn Listen ist nur eine Frau auf den hinteren Plätzen nominiert. Corinna Raupach

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