Judenmord und öffentliche Verwaltung

■ Kooperation zwischen Gedenkstätte »Haus der Wannsee-Konferenz« und Gewerkschaft ÖTV/ Branchenspezifische Seminare über die Beteiligung der eigenen Berufsgruppe am Massenmord

Berlin. Etwa 150 Angestellte im öffentlichen Dienst lesen derzeit in den Seminarräumen der Gedenkstätte »Haus der Wannsee-Konferenz« unbequeme Dokumente. Es sind Mitglieder der Gewerkschaft ÖTV, die in einem Wochenseminar die Spuren der verschiedenen Berufsgruppen der öffentlichen Verwaltung im Nationalsozialismus zurückverfolgen. Sie wollen die erschreckende »Normalität« begreifen, mit der die Nationalsozialisten Massenmord als staatliche Aufgabe betrieben haben. »Wenn es darum ging, Schuldige und Mitwisser oder Täter in Amtsstuben und an Schreibtischen ausfindig zu machen«, sagte der für die Bildungsarbeit zuständige stellvertretende Vorsitzende der ÖTV, Wolfgang Warburg, bei Beginn der Veranstaltung, »waren wir selbst nicht besonders eifrig.«

Die ÖTV will als erste Gewerkschaft im DGB dieses Defizit schließen und diese branchenspezifischen Seminare in ihr regelmäßiges Bildungsangebot aufnehmen. Sie hat deshalb mit dem »Haus der Wannsee- Konferenz« eine langfristige Kooperation vereinbart. Das pädagogische Konzept für die Seminare hat die Leiterin der Bildungsarbeit in der Gedenkstätte, Annegret Ehmann, ausgearbeitet. Es komme drauf an, sagte sie, zu zeigen, daß jede Berufsgruppe, seien es Polizisten, Eisenbahner oder Bürokraten, in den Kommunalverwaltungen mit der Diskriminierung und Ausgrenzung der Juden zu tun hatte. Der Massenmord sei »arbeitsteilig« geplant, verwaltet und durchgeführt worden. Beispiel Gesundheitsverwaltung, eine der fünf branchenspezifischen Arbeitsgruppen in diesem Seminar. Die ÖTV-Mitglieder, die an dieser Arbeitsgruppe teilnehmen, erhalten eine von ihr zusammengestellte Dokumentenmappe. Zu finden sind darin Auszüge aus seriösen Berufsfachzeitschriften wie 'Der öffentliche Gesundheitsdienst‘, und 'Das deutsche Ärzteblatt‘. Dokument für Dokument können jetzt die Krankenschwestern von heute nachvollziehen, wie die Rassepolitik, oft getarnt in Formeln wie »Vereinheitlichung des Gesundheitswesens«, das Denken vergiftete und das Handeln bestimmte — und dies bis zur Selektion in den Krankenstuben der Konzentrationslager.

Das didaktisch Besondere an dieser neuen Art von Seminaren ist auch, daß die Teilnehmer, die ja durchweg keinerlei Erfahrung mit historischen Materialien haben, lernen, sich selbst Dokumente zu erschließen. In der Mediothek der Gedenkstätte finden sich ganze Aktenordner mit weiterführenden Materialien. Gefunden werden können Studien über Krankenmord, Täterbiographien, Prozeßakten gegen Krankenschwestern und Opferschicksale. Auch Filme, beispielsweise ein Streifen über die Verbindung von Rassenlehre und moderner Gentechnolgie, steht zur Verfügung. Aber bei diesen Schritten in die Vergangenheit soll es nicht bleiben. Zum pädagogischen Konzept gehört gleichermaßen, sich die Frage zu stellen, ob Handlungs- und Denkweisen, die den Menschen zum Objekt von Verwaltungshandeln machen, heute gänzlich überwunden seien. Denn die Gefahren, so sagt Annegret Ehmann, die von anonymen Bürokratien ausgehen, »haben sich um ein Vielfaches vergrößert.« aku