Es lebe die entfesselte Marktwirtschaft

■ Seit Anfang Januar leben die MoskauerInnen mit „freien“ Preisen. Zu kaufen gibt es zwar immer noch nichts — dafür rückt jetzt die Massenarbeitslosigkeit näher. Beliebter Kündigungsgrund, vor allem für Frauen: „Vorhandensein kleiner Kinder“. Winterliche Eindrücke aus der Warteschlange in Moskau VON BARBARA KERNECK

Marina Iwanowna Golowina eilt an das Ende der Schlange zurück, an das sie sich vor der zentralen Lebensmittel-Handlung einer Moskauer Satellitenstadt „auf alle Fälle“ angestellt hatte, und mit hysterischer Intonation verkündet sie der blassen fünfjährigen Irinotschka: „176 Rubel soll ein einziges Kilo kosten — die sollen sich ihre Butter um die Ohren schmieren!“ Marina verläßt die Schlange und verzichtet auf das niederschmetternde Kauferlebnis und das seltene Produkt. Mit einem Nicken in Richtung Irinotschka verkündet sie den Umstehenden: „Drei solche Rotznäschen habe ich zu Hause und mein Mann und ich verdienen zusammen nur siebenhundert Rubel. Was sollen wir bei diesen Preisen überhaupt noch essen, was soll noch aus uns allen werden!“

Marina Iwanowna ist eine von vielen Moskauerinnen, die es sich heute nicht mehr leisten können, um ein Kilo Rindleisch für 85 Rubel oder um ein Dutzend Eier für 25 Rubel anzustehen. Und bald könnte sie sich in Schlangen ganz anderer Art wiederfinden: Nämlich in den im Juli neugegründeten Bezirksarbeitsämtern. Eine Million Arbeitslose prophezeien Experten der Zehnmillionenstadt Moskau für das Jahr 1992, 20 Millionen könnten es in der gesamten Russischen Föderation werden. 200.000 Menschen werden in der Mutter der russischen Städte schon in den nächsten Wochen im Zusammenhang mit der Rüstungskonversion gefeuert, 140.000 bei der Liquidierung der ehemaligen Unions-Behörden und 100.000 bei der Privatisierung und dem Bankrott von Dienstleistungsunternehmen.

80 Prozent von ihnen sind Frauen. Die Berufe, die sie bisher ausübten, sind nicht mehr gefragt: Entlassen werden Beamte, Angestellte, Übersetzer, ja sogar die bis vor kurzem noch so begehrten Programmiererinnen — erwünscht ist auf dem Arbeitsmarkt körperliche Schwerstarbeit, vor allem aber Kinderlosigkeit. „Wenn ich eine Bewerberin in einen Betrieb schicke“, erzählt mir die Beraterin in meinem Bezirksarbeitsamt, „schreiben mir die Personalchefs schon ganz offen den Ablehnungsgrund auf die Akte: Vorhandensein kleiner Kinder“.

Vor allem um die Wurst geht es bei den neuesten finanziellen Reformen in Rußland, wenn auch unter anderem um die Milch und um die Kartoffel. Die Preise sind seit dem ersten Januar scheinbar befreit, aber können die Bürger diese Freiheit auch ertragen? Fast zwei Drittel der ehemaligen Sowjetbürger existieren unterhalb der Armutsgrenze: Sie verdienen nicht genug, um sich sattzuessen und zu kleiden.

Wie immer haben die Diebe und Einbrecher die Zeichen der Zeit als erste erkannt. Sie erleichtern ihre Opfer neuerdings nicht mehr nur um Geld und Wertsachen, sondern auch um alles Eßbare. In Tscheljabinsk im Ural stürmten ob der hohen Preise verbitterte und verbiesterte Käuferinnen um die Jahreswende ein Geschäft mit Fäusten — und nicht zitierfähig sind die Beinamen, mit denen Kunden in ganz Rußland „diese Spinnen“ belegen, die „die Macht ergattert haben und denen das Volk dabei völlig schnuppe ist“.

Eine Familie mit kleinen Kindern kann sich heute kaum mehr Milch leisten, wenn der Liter auf dem Markt im Durchschnitt um die vierzig Rubel kostet (bei einem Durchschnittsmonatseinkommen von etwa 400 Rubeln). Ein Kilo Tomaten kostet zur Zeit auf den Kolchosmärkten immerhin 200 Rubel. Das Wort „Vitamine“ kann der russische Durchschnittsbürger getrost aus seinem Wortschatz streichen. Viele Geschäfte haben sich gegen die Umwertung aller Werte tagelang mit dem hilflosen Schild „Revision“ gewehrt, wobei doch jeder potentielle Käufer mit bloßem Auge wahrnimmt, daß auf den Regalen keinerlei Waren lagern, die „revisioniert“ werden könnten.

Die Bürger machen nicht mehr mit

„Als gerecht“, so schrieb ein aufgeklärtes westliches Blatt, „erweisen sich immer nur die Preise, die die Konsumenten auch zu zahlen bereit sind.“ Und hier zeigt sich ganz unerwartet ein Hoffnungsschimmer am russischen Horizont: Obwohl so etwas wie ein Konsumentenstreik in Zeiten des grausamsten Mangels fast undenkbar ist, machen die meisten ehemaligen Sowjetbürger heute einfach nicht mehr mit. Ihr Preisbewußtsein war auch in den sogenannten „besseren Zeiten“, als sie die Verhältnisse im Ausland noch nicht kannten, dasjenige „armer Leute“. In das Jaroslawer Milchkombinat unweit von Moskau wurden bereits 60 Tonnen saurer Sahne zu 70 Rubeln pro Kilo und 11 Tonnen Quark zu sieben Rubel pro Packung wegen Unverkäuflichkeit zurückgeliefert, jubelt die marktfreundliche 'Iswestija‘. Und weiter berichtet das Blatt: in Irkutsk verkaufte ein Geschäft in 24 Stunden nur anderthalb Kilo der berühmten Wurst, um die sich alles dreht, obwohl sie reichlich angeliefert worden war.

Schon weigern sich Fleischverarbeitungskombinate, die überteuerte Ware der Kolchosen und Sowchosen anzunehmen: „Wir sind es leid, Eure unabsetzbaren Schinken zu räuchern, seht zu, wie ihr sie selbst loswerdet!“ Im zentralen Moskauer Warenhaus GUM warnen auch heute Schilder vor den interessanten Abteilungen, die ausländische Kosmetika führen: „Verkauf nur gegen Einladung“. Und wenn ich eine Keramik- Vase in dem Geschäft „Geschenke“ an der Twerskaja (ehemals Gorkij- Straße) erstehen möchte, muß ich mich auch jetzt darauf gefaßt machen, daß mir ein mürrischer Pförtner die Auskunft erteilt: „Heute werden hier nur die Belegschaften bestimmter Betriebe bedient“.

Wo andere Lebensmittel unerschwinglich werden, wachsen die Brotschlangen. La Grande Révolution hat uns gelehrt, dieses Phänomen nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Nicht zuletzt deshalb träumen die meisten Experten der russischen Regierung vom „großen Sprung nach vorn“ in das „Morgen der Marktwirtschaft“. Bei weitem nicht alle von ihnen sind sich aber darüber einig, was dies wirklich bedeutet. Sich vom ökonomischen Totalitarismus zu befreien ist wesentlich schwerer als vom politischen, zumal die entmachteten, aber noch immer mächtigen Mitglieder der KPdSU-Nomenklatura versuchen, in den neuen Handelsstrukturen Unterschlupf zu finden. Noch immer sind die großen staatlichen Verteilungsstrukturn auf dem Terrain der ehemaligen UdSSR unangetastet.

„Nötig wäre eine gründliche Entmonopolisierung“, argumentiert der Wirtschaftswissenschaftler Wladimir Tichonow in einer der letzten Ausgaben von 'Moscow-News‘, „aber wir begnügen uns bisher mit dem Privatisieren — und auch dies nur in Worten — von Friseurgeschäften und Tante-Emma-Läden“. Natürlich sei es „Wahnsinn“, in Zeiten galoppierender Inflation Immobilien aus der Hand zu geben, meinte 'Iswestija‘-Kommentator Jewgenij Jasin — und doch müsse man sich damit mehr beeilen, als dies die bisherige Moskauer Stadtregierung getan habe, einfach um bei den Werktätigen „Vertrauen zu bilden“.

Soll die Liberalisierung der Preise eine Folge oder die Voraussetzung des freien Unternehmertums sein? Sind freie Preise ohne Privatisierung der Betriebe und ohne Bodenreform überhaupt denkbar? Und womit sollten die einmal privatisierten hauptstädtischen Geschäfte handeln? Ein aktiver Einzelhandel nimmt nicht nur passiv Waren ab, sondern stimuliert auch deren Produktion — verkünden optimistische Stimmen. Mehr als auf allen anderen Gebieten scheinen sich die politischen Kommentatoren der russischen Presse darüber einig zu sein, daß das Risiko in der Landwirtschaft noch am ehesten kalukulierbar sein könnte. Boris Jelzins Ukas über die Agrarreform sorgt auf dem Lande für Unruhe: Privatisierung bis Ende Januar — ist dies nicht unrealistisch? Heißt dies nicht, allzuschnell den Wert von Grund und Boden über den Daumen zu peilen? Läßt sich ein für eine riesige Monokultur bestimmter Traktor in Scheiben schneiden? Und wie steht es mit den Rechten jener Bauern, die gern als Kooperative zusammenbleiben möchten?

Und noch einige Entscheidungen Jelzins in der letzten Zeit verraten bei allem guten Willen unausrottbares bürokratisches Erbe: Aus allen Ecken und Enden hagelt es in den letzten Tagen Proteste von KGBlern, die der russischen Regierung unterstellt sind und jetzt auf Regierungsbeschluß mit den Anti-Terror-Truppen des Innenministeriums koordiniert wurden: Sie seien nicht bereit, sich in Stoß- Trupps gegen mögliche Hungeraufstände zu formieren, weil sie nicht mehr „Henkersfunktionen der 30er Jahre“ erfüllen wollten.

Schwer wiegt im Moment auch die Steuerpolitik der russischen Regierung, die von den wenigen florierenden Kooperativen bis zu 30 Prozent ihrer Einnahmen abschöpfen will. Auf beharrliche Unternehmerproteste hin zeigte sich der stellvertretende russische Ministerpräsident Jegor Gaidar Mitte Januar kompromißbereit. Und Moskaus Bürgermeister Gawrijl Popow versprach nach dem Rücktritt seiner in letzter Zeit ungeliebten Stadt-Exekutive sogar den zeitweiligen Verzicht auf jegliche Unternehmens-Steuern für das ohnehin schwer gebeutelte Kommunal-Budget der Hauptstadt.

Und das Volk? Nach der Entfesselung der Preise Anfang Januar zeigten Meinungsumfragen in Moskau, daß trotz allen aktuellen Unmuts über die Hälfte der Bürger für die Privatisierung der Läden — und ein Drittel sogar für die der großen Kaufhäuser eintrat. Zwei Drittel der Moskauer waren nicht bereit, an Demonstrationen oder Meetings gegen die Preiserhöhungen teilzunehmen, weil sie letztere für ein notwendiges Übel hielten. Jeweils etwa sieben Prozent zeigten sich allerdings wild entschlossen, gegen die gegenwärtige Wirtschaftspolitik auf die Straße zu gehen: die einen sieben Prozent für die Rückkehr zum Plan, die anderen sieben, weil ihnen alles nicht schnell genug geht. Gewaltsame Konfrontationen dieser beiden entgegengestzten Gruppen könnten nach Meinung von Experten einen Steppenbrand entfachen.