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: Festeburg Stolpe!

■ Im Osten entsteht eine Landschaft der Pathologie

Lange wurde nach einem Namen für die neuen Bundesländer gesucht. Er sollte, wie ich meine, Pathologie-Ost heißen. Denn unermüdlich wird hier seziert. Vivisektion, lebendigen Leibes, muß der meistens noch in keiner Weise überführte Delinquent das schreckliche Skalpell Stasi-Verdacht ertragen. Wer sich verteidigt, klagt sich schon an. Wer es dennoch nicht lassen will, wie der Rektor der Weimarer Architekturhochschule Mönnig, aus dessen Stasi-Akte wird dann eben öffentlich verlesen. Durch den Wissenschaftsminister Fickel, FDP, höchstpersönlich, dereinst selbst Professor an der Pädagogischen Hochschule in Erfurt und als „Erzieher sozialistischer Lehrerpersönlichkeiten“ natürlich ein unerschrockener Widerständler par excellence.

Und nun der Stolpe. Die Festeburg Stolpe. Ein Mann, der vor der Wende Unzähligen half, der auch heute Unzähligen im Osten das Bewußtsein gibt, sich nicht gar zu sehr dafür schämen zu müssen, 1945 unter das Joch der Russen und nicht der Amerikaner geraten zu sein. Man braucht nicht gespannt zu sein über den Ausgang des „Falles Stolpe“. Natürlich hat er sich konspirativ getroffen und sicherlich auch Wertungen abgeliefert. Denn ohne nichts gibt es nichts. In der Marktwirtschaft nicht, das trichtert man uns ja gerade mit Löffeln ein, und bei der Ohrenbruderschaft erst recht nichts. Oder glaubt jemand im Ernst, die Stasi habe sich Freya Klier oder den Zieharmoniker Krawczyk — und wie die anderen alle hießen — nur wegen Stolpes blauer Augen abhandeln lassen? Solche Kontakte waren unerläßlich, und die Geschichte ist voll von Menschen, die um der Sache willen mit dem Teufel paktierten. Richard Sorge in Tokio, der SS-Offizier Kurt Gerstein, der zur Rettung der Juden sogar an Vergasungen mitwirkte, um genaues Zeugnis ablegen zu können. Auch der Weg des US-Präsidenten Bush von der CIA, die bekanntermaßen auch kein Gesangsverein ist, direkt ins Weiße Haus ist weiterer Beleg dafür, daß Menschenwege seltsam sind. Alles geschenkt. Nicht geschenkt aber wird jedem der Hiesigen eine vergleichsweise viel harmlosere Vita. Er muß, um satisfaktionsfähig bleiben zu können, ein Leben geführt haben wie die frommen Eremiten weiland in der Wüste. Sie waren einst angetreten, ein besseres Ostdeutschland aufzubauen. Herauskommen wird ein sezierter Landstrich. Schon kursieren Wetten, wer der nächste sein wird. Je menschlich und politisch qualifizierter die Person, um so medienwirksamer ihre Entlarvung. Wenigstens etwas Positives hat der Fall des Kirchen- und Ehrenmannes Stolpe letztendlich: Es regt sich Widerstand. Die Menschen hierzulande erkennen zunehmend, wohin sie ihr jahrzehntelanges Schweigen geführt hat, und beginnen, die Stimme zu erheben. Henning Pawel, Thüringen