Krankheit als Erfindung

Dieter Lenzens Blick auf die kulturelle Seite von Krankheit  ■ Von Karl Braun

Der Körper, den die Mediziner mit Pillen, chirurgischen Eingriffen, allerhand technischen Apparaten und diätetisch-pädagogischen Maßregeln behandeln, scheint ganz Natur zu sein; daß er aber genausogut Produkt von Gesellschaft und Kultur ist, daß das Soziale das Physische überformt und prägt, ist immer noch nicht genügend ins Bewußtsein gedrungen. Hier setzt Dieter Lenzen mit Krankheit als Erfindung an. Er will zeigen, wie Körper dadurch als krank wahrgenommen werden, daß ein entsprechender Diskurs in der Gesellschaft aufkommt.

Was heißt hier Diskurs? Was der Einzelne vom Funktionieren seines Körpers weiß, wie er Schmerzen interpretiert und in bestehende Krankheitsbilder einordnet, kurz: wie er überhaupt zu einem Verständnis seines eigenen Körpers gelangen kann, ist abhängig vom Wissen und von den Debatten seiner Zeit über den Körper und somit davon, wie er gelernt hat, über seinen eigenen Körper zu reden, ihn gemäß dieser sprachlichen Einordnung zu erleben und zu fühlen. Diskurs ist somit das Zusammenspiel von allgemeinem und individuellem Wissen: eine Verschränkung, der auch realitätsstiftende Wirkung zukommt.

Wer aus Gründen des Cholesterinspiegels auf das gewohnte Frühstücksei verzichtet, wer — aus welchen Gründen auch immer — glaubt, sein Kind jahrelang mit einer kieferorthopädischen Spange in die Schule schicken zu müssen, wer aus Ansteckungsangst vor Aids die körperliche Lust zu zweit traumatisch erlebt oder wer sich als werdende Mutter bei einer Amniozentese die Bauchdecke durchpieksen läßt, damit der Fötus vom Perinatalogen fachmännisch in Augenschein genommen werden kann — wer solches tut, folgt nicht nur einer „inneren Stimme“, sondern auch der realitätsetzenden Macht medizinischer Diskurse.

Dieter Lenzen tastet sich an Bruchstellen dieser diskursiv vermittelten Tatsachen heran. Gültige Annahmen über den Körper werden in Zweifel gezogen: Was ist eigentlich Cholesterin? Besteht der behauptete Zusammenhang von Nahrungsaufnahme, Blutfett und Herzerkrankungen? Im historischen Diskurs wird gezeigt, wie sich in der Idee des Cholesterins die alte Säftetheorie (Cholesterin heißt „feste Galle“) durch eine falsche Etymologie als „Blutfett“ in die Moderne herübergerettet hat. Schließlich wurde dieses Blutfett so wirksam propagiert, daß durch die Festsetzung von Normwerten praktisch alle Personen über 30 an überhöhten Blutfettwerten „leiden“. Wer nicht so denkt und handelt, hat eben keinen modernen Körper. Dabei ist medizinisch noch gar nicht klar, wie Cholesterin individuell verarbeitet wird und ob es überhaupt die schwerwiegenden Auswirkungen hat, die ihm unterstellt werden.

Am Beispiel der Perinatalmedizin und der Kieferorthopädie zeigt Lenzen, wie sich neue Fachrichtungen aus der Aufteilung der bestehenden Medizin ausgliedern und sich in den Kampf um das „Patientengut“ begeben. Daß diese Disziplinen nicht wirkliche Hilfe leisten und leisten können, wird nicht behauptet. Vielmehr geht es Lenzen darum, wie in den neuen und eigenständigen Disziplinen viele Phänomene, die bisher der körperlichen Normalität zugerechnet wurden, als Risiko, das heißt als einer Behandlung würdig sich darstellen.

So gelten inzwischen die Hälfte aller Schwangerschaften unter dem Normdruck der Perinatalmedizin als Risikoschwangerschaften. Das Austragen sowie die Geburt eines Kindes findet mehr und mehr als medizinische „Operation“ statt. Hängt die beeindruckende Zahl der Senkung der Sterblichkeitsrate von Geborenen und Gebärenden wirklich von der Entwicklung der Vorgeburtsmedizin ab? Die Zweischneidigkeit der Perinatalogie: „die Verunsicherung und Verängstigung anhand des Konzeptes der Risikofaktoren einerseits und andererseits die Suggestion, man werde mit diesen Risiken dank der medizinischen Fortschritte schon fertig werden.“

Wie erfolgreich in den westlichen Gesellschaften der „Dysgnathie“, dem „Mißbiß“ und der Fehlstellung der Zähne, der Kampf angesagt wurde, zeigt das Kapitel über die enorme Ausbreitung der Kieferorthopädie. Es geht dabei weniger um Gesund- oder Krankheit, sondern um ästhetische Kategorien, die mit dem Selbstgefühl der Menschen im Abendland verbunden sind. Ein schönes Gebiß wird zum Ausdruck von Zivilisiertheit und Natürlichkeit, das gleichmäßige Schauspielergebiß zum normbildenden Standard. Am Ende lächeln — zumindest was die Zähne betrifft — fast alle gleich.

Was die Verschränkung von individuellem Körpergefühl und gesellschaftlicher Norm anbelangt, bleibt Lenzen allerdings auch Antworten schuldig. Der Grund dafür ist, daß er mit seiner Analyse medizinischer Diskurse nicht eigentlich diese Diskurse selbst meint, sondern die Thesen, die er in früheren Büchern aufgestellt hat, erneut beweisen will: Der moderne Mensch verdrängt die Tatsache seines Todes, und diese Verdrängung führt dazu, daß das Erwachsenwerden einer zunehmenden Verkindlichung unserer Gesellschaft weicht: „Da wir uns im Leben aber nur dann bewußt einrichten können, wenn wir es unter dem Eindruck des Memento mori tun, leben wir nicht, wenn wir das Sterben nicht lernen, auch durch den sich wandelnden Körper. Die Regelung jugendlich uniformer Gesichter hindert uns daran.“

So endet das Kapitel über die Kieferorthopädie; so ähnlich enden aber auch alle anderen Analysen dieses Buches: Sie werden auf das Prokrustes-Bett von „Todestatsache“ und „Ausdehnung von Kindheit“ gelegt und solange gestreckt, bis sie in dieses Schema passen. Wo die Analyse einer soziokulturellen Konstruktion von Krankheit erwartet werden dürfte, sieht sich das Publikum plötzlich mit dem argumentativen Joker „Mythos“ konfrontiert.

Vor allem in den Kapiteln, die weniger medizinisch als ethisch ausgerichtet sind — Abtreibung, In-vitro- Fertilisation, Sterbehilfe —, kommt dies negativ zum Tragen. Lenzens Behauptung, daß viele Aufgaben, die früher Geistliche innehatten, nun von Medizinern mitübernommen werden müssen, hat keinerlei Folgen für die Konzeption seiner Anthropologie. Diese Schwäche ist allerdings eine Schwäche der derzeitigen historischen Anthropologie insgesamt. Die Entstehung der modernen Anthropologie wird in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts angesetzt. Daß die vorausgegangenen Jahrhunderte, in denen die christliche Theologie herrschte, ebenso eine „Menschenwissenschaft“ besaßen, wird übersehen: Denn diese Anthropologie war eben eine theologisch vermittelte. Das Menschenbild —auch der menschliche Körper— war ein sekundärer Faktor des Gottesbildes. Da die modernen Anthropologen diese „göttliche“ Anthropologie nicht als solche gelten lassen wollen, überspringen sie Jahrhunderte, um in der Antike wieder authentische Anthropologie zu finden. Und natürlich den Mythos, der leichter zu handhaben ist als die komplexen Körpertheorien der Antike.

Lenzen macht da keine Ausnahme: Bei der künstlichen Zeugung verweist er auf die „Schöpfungsmythen“ und „die außergewöhnliche Zeugung der Götter“, bei der Frage des Schwangerschaftsabbruchs auf die Göttlich- oder Gottähnlichkeit der „von der Hand der eigenen Eltern getöteten Kinder“. Der Mythos ist allenthalben präsent. Dagegen bleiben (um nur ein Beispiel zu nennen) beim kurzen Abriß der christlichen Zeugungs- und Beseelungstheorien — wann wird der Mensch zum Menschen? — zentrale Fragen wie die Theorie des männlichen und des weiblichen Samens oder das Problem des Pneumas oder der Lebensgeister unberührt.

Bezeichnenderweise ist auch der einzige voraufklärerische, nicht antike Diskurs, den Lenzen etwas ausführlicher behandelt, ein mythologischer: der des Vampirs als Epidemieverbreiter. HIV-Infektion und Aids- Erkrankung werden in seiner Beschreibung zu modernem Vampirismus, der — dazu muß der arme Frauenheld und flugs zum Vampir erklärte Casanova herhalten — die Jugendlichen von ihrer Überführung in den — na wohin? — in den Erwachsenenstatus abhalten soll. Aus Angst vor den tödlichen Gefahren des Geschlechtsverkehrs treten die Jugendlichen ihre mythische „Bewährungsfahrt“, die sie mit dem Tod konfrontieren und sie so zu Erwachsenen machen sollte, erst gar nicht an. „Bewährungsfahrt“ mit Kondom gilt bei Lenzen nämlich nicht. Die Heranwachsenden „müssen sich eigens dafür hergestellter Objekte bedienen, um sich vor dem Tod zu schützen, soweit sie nicht Enthaltsamkeit generell vorziehen. Diese Todeserfahrung ist vermutlich wirksamer als Betrachtung von Westernfilmen und Videoclips.“

Fast grotesk liest sich die Zusammenfassung der einzelnen medizinischen Diskurse unter Lenzens mythologisierendem Begriffsinventar. „Er [der Arzt, der an die Stelle des Priesters getreten ist] steht [...] an den Übergangsphasen von Lebensphase zu Lebensphase. Als Perinatologe produziert der Arzt die Geburt als Krisenereignis durch die Expansion der Risikoschwangerschaften. Als Kieferorthopäde leistet er tendenziell Überführungsakte von der Kindheit in die Pubertät beziehungsweise die Adoleszenz, indem er einen Teil des Körpers durch eine lange Behandlung umformt. Als Propagandistin einer umfassenden Aids- Furcht leistet die Medizin einen symbolischen Ersatzversuch für die „Heldenfahrt“, indem sie auf die Gefahren der Erwachsenen-Sexualität verweist.“ Bei der letzten Diskursanalyse über Sterbehilfe gerät Lenzen deutlich ins Schwimmen. Er unterschlägt die Tötung nach Bitte um eine Tötung und setzt so die ganze Diskussion um Sterbehilfe letztlich in eins mit den Morden der nationalsozialistischen Euthanasie-Programme. Statt vom Recht auf Selbsttötung oder selbstgewünschte Tötung her zu denken, wie es zum Beispiel Jean Amery gefordert hat, sieht er nur eine die Todestatsache verdrängende Medizin, die sich selbst zum Herrn über den Eintritt dieser Todestatsache machen möchte.

Soziales interessiert Lenzen nur am Rande, und er sagt das auch klar und eindeutig. Lenzen weiß: In einer Welt, in der nach dem Verschwinden eines verbindlichen Gottes den Menschen nur ihre eigene, nicht ins Jenseits weisende Körperlichkeit geblieben ist, mußte die Medizin schamanistische und priesterliche Funktion übernehmen. So zeigt seine Untersuchung zum einen, wie wichtig die Analyse medizinischer Diskurse für unsere Gesellschaft ist, da durch sie körperliche und damit soziale Realität hergestellt wird. Sie ist aber auch ein anschauliches Beispiel dafür, daß gerade hierzu der Begriffsapparat einer dem Mythos verpflichteten Anthropologie nicht ausreicht. Vonnöten ist genaue sozialwissenschaftlich-historische Begleitarbeit, um nicht genau das in anderer Form zu reproduzieren, was eigentlich kritisiert werden soll. Auch die philosophische Anthropologie birgt nämlich schamanistische Tendenzen in sich. Sollte es sich unbewußt um Fragen der Rangordnung handeln, wer denn nun den Priester ersetzen kann?

Dieter Lenzen: Krankheit als Erfindung. Medizinische Eingriffe in die Kultur. Frankfurt am Main 1991, Fischer Taschenbuch, 18,80DM.