„Die UNO sollte 20 Jahre bleiben“

Serbiens Außenminister Jovanovic sieht in der deutschen Politik gegenüber Jugoslawien einen Akt von Aggression. Er fordert die Anerkennung Restjugoslawiens.  ■ VON ERICH RATHFELDER, BELGRAD

Vladislav Jovanovic (58) studierte in Belgrad Rechtswissenschaft, wurde danach Diplomat und war unter anderem in London und der Türkei, dort von 1985 bis 89 als Botschafter, im diplomatischen Dienst Jugoslawiens tätig. Seit Juni letzten Jahres ist er Außenminister der Republik Serbien.

taz: Deutschland und Serbien, ist das eine immer wiederkehrende Geschichte? Sie sprechen von einem Vierten Reich und einer Aggression Deutschlands gegenüber Serbien.

Vladislav Jovanovic: Es gibt zwei grundlegende Schwachpunkte der deutschen Politik gegenüber Serbien. Der eine zeigt sich daran, daß Deutschland in Jugoslawien den Sezessionismus unterstützt hat, und dies ist den Wünschen unseres Volkes, in einem gemeinsamen Staat zu leben, entgegengesetzt. Ich erinnere auch daran, daß die deutsche Politik vor 50 Jahren die Einheit Jugoslawiens zerschlagen hat. Seinerzeit erfolgte diese Zerschlagung durch militärische Mittel, heute erfolgt sie durch die Politik.

Der zweite Gesichtspunkt ist ein rechtlicher. Legalitätsprinzip und Durchsetzung des Gesetzes sind für mich eine der Säulen deutscher Rechtstradition. Deswegen wundert es mich, daß die neue deutsche Politik alle rechtlichen Aspekte übergangen hat. Man hat die Augen verschlossen vor der Tatsache, daß Slowenien und Kroatien mit einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung gegen die Verfassungsordnung in Jugoslawien verstoßen haben.

Es ist uns wohl bekannt, was Deutschland im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft unternommen hat, um auch andere Mitgliedsstaaten gegen Jugoslawien einzunehmen. Dieser Druck gegen die anderen EG-Staaten war dermaßen stark und grob, daß die Vertreter einzelner EG-Staaten hier in Belgrad sich darüber regelrecht beklagten.

Herr Tudjman und Herr Kucan haben zu diesen Fragen sicherlich eine andere Meinung. Was aber jetzt meines Erachtens wichtig scheint, ist die Frage, ob und wie nach der Anerkennung Kroatiens und Sloweniens durch Deutschland zerschlagenes Porzellan im Verhältnis zu Serbien wieder zu kitten ist.

Nun, angesichts der Tatsachen müssen wir von den Interessen der Bürger und der Völker ausgehen, und nicht von denen der Politik. Das serbische Volk will sicherlich die Zusammenarbeit mit Deutschland fortsetzen. Wir sind weiterhin geographisch sehr nahe, wir werden ja nur von Ungarn und Österreich getrennt. Wir erwarten auch von den Deutschen eine weitere Zusammenarbeit.

Nachdem nun der Revanchismus gewonnen und Slowenien und Kroatien befreit hat, erwarten wir, daß der übrige Teil Jugoslawiens in Ruhe gelassen wird, um sich in seiner Weise zu organisieren und eine demokratische Gemeinschaft der Völker und Republiken fortzusetzen. Ein demokratischer Bund der übriggebliebenen Teile Jugoslawiens wäre eine Gewähr für die Stabilität und den Frieden für diese Region. Er wäre auch eine Gewähr dafür, daß Slowenien und Kroatien in diesem Raum weiterexistieren können, und zwar besser, als wenn der Prozeß der Zerstückelung fortgesetzt würde.

Dies ist also ein Plädoyer für ein neues Jugoslawien. Wie soll es denn aussehen? Welche Grenzen soll es haben?

Es ist kein neues Jugoslawien, sondern es handelt sich um eine Kontinuität Jugoslawiens ohne Slowenien und Kroatien. Bisher sind zwei Republiken entschlossen, das gemeinsame Leben in Jugoslawien fortzusetzen: Montenegro und Serbien. Wir hätten es sehr gerne gesehen, wenn die beiden Republiken Bosnien-Herzegowina und Mazedonien an diesem gemeinsamen Bund teilnehmen würden. Wir sind davon überzeugt, daß das Lebensinteresse dieser Völker darin widergespiegelt würde.

Natürlich wissen wir um den Antrag von Bosnien- Herzegowina und Mazedoniens um diplomatische Anerkennung. Ich hoffe und glaube, daß es genügend kluge Leute in diesen beiden Republiken gibt, die das höhere Interesse, das in einem veränderten, demokratisierten Jugoslawien steckt, erkennen können.

So eindeutig ist dies nicht. Die Muslimanen und Kroaten in Bosnien wollen selbständig werden.

Die Entscheidung für die Unabhängigkeit wäre ein Weg in die Ungewißheit, in die des Risikos. Die Serben in Bosnien zählen insgesamt 35 Prozent der Gesamtbevölkerung und leben auf 60 Prozent der Fläche verstreut. Diese Serben wollen in keinem unabhängigen Bosnien leben. Sie sind eines der drei konstituierenden Völker in Bosnien-Herzegowina, deshalb haben sie auch ein Recht, diese Forderung zu stellen. Eine Unabhängigkeit Bosniens würde zugleich eine Spaltung Bosniens bedeuten, eine Spaltung auf friedlichem oder auf bewaffnetem Wege.

Es gibt den Vorschlag vom Präsidenten Bosniens, Herrn Izetbegovic, Blauhelme auch nach Bosnien zu bringen. Herr Karadzic, der Präsident der Serben in Bosnien, hat erklärt, auf jeden Fall müßte die jugoslawische Armee bleiben, um das Überleben der Serben zu sichern. Aber er deutete auch an, man könnte Blauhelme zulassen, wenn die Armee bleiben würde. Deutet das auf einen Kompromiß?

Soviel ich weiß, will Herr Karadzic die Blauhelme in Bosnien nicht. Wir wissen aber nicht, wie die Moslems, Serben und Kroaten diesen Konflikt lösen werden. Wir mischen uns als serbische Regierung da nicht ein. Natürlich möchten wir nicht, daß dies in Unruhen endet. Wir schlagen daher vor, daß Bosnien als Gesamtgebiet bewahrt wird und zu einem Teil der gesamtjugoslawischen Föderation wird.

Herr Minister, es werden jetzt Verhandlungen auf vielen Ebenen stattfinden müssen. In Kroatien sollen Blauhelme stationiert werden. In welcher Institution sollen diese Verhandlungen Ihrer Meinung nach ablaufen?

In der letzten Zeit ist es zu positiven Entwicklungen gekommen, die teilweise durch den Einsatz Serbiens erfolgt sind. Und diese bestehen erstens darin, daß ein Waffenstillstand erreicht wurde, und zweitens im Plan von Cyrus Vance, der den Einsatz von Blauhelmen ermöglichte. Es sind auch weitere politische Anstrengungen Serbiens vorhanden, um den gesamten Fragenkomplex zu lösen. Ich möchte nur den Dialog mit Mazedonien nennen.

Die Europäische Gemeinschaft hat durch die Art und Weise kompromittiert, wie vorgegangen wurde. Die EG übte Druck auf die Haager Konferenz aus, und nun setzt sie das auch bei den Brüsseler Gesprächen fort. Wir haben aus diesem Grunde von der UNO gefordert, ihre Rolle nicht nur auf die friedensstiftende in Gestalt der Blauhelme zu beschränken, sondern auch politische Anstrengungen zu unternehmen.

Die Verbindung zwischen dem Generalsekretär der UNO und der Brüsseler Konferenz ist schon hergestellt worden, denn der Generalsekretär hat einen Emissär geschickt. Die Brüsseler Konferenz hat Aussichten auf Erfolg, wenn die EG ihre selektiven ökonomischen Sanktionen gegen Serbien wiederaufhebt. Und vor allem dann, wenn sie sich auf ihre ursprünglichen Absichten, sich auf das Vermitteln zwischen den Konfliktpartnern zu beschränken, wieder besinnt.

Wir erwarten auch von Deutschland, die ökonomischen Sanktionen wiederaufzuheben, denn diese Entscheidung war von Anfang an ungerecht und diskriminierend. Außerdem haben wir die Äußerungen von Herrn Kohl wahrgenommen, daß Deutschland keine antiserbischen Gefühle hege. Es tut wohl, solche Erklärungen zu hören. Vor allem kommt es darauf an, dem jetzt praktische Schritte folgen zu lassen. Wenn die deutsche Politik wieder realistisch wird, kann sie auch hier mehr Gewicht erhalten.

Immerhin geht es bei den Verhandlungen um Grenzveränderungen, wenn ich Ihre Politik richtig verstehe. Wie lange wird der Verhandlungsprozeß in bezug auf Kroatien, Bosnien, auf Mazedonien und auch Kosovo dauern? Wie lange sollen die Vereinten Nationen mit Friedenstruppen aktiv sein?

Gegenüber all diesen Fragen verfolgen wir eine prinzipielle Politik. Wenn auch andere Republiken mit solchen Prinzipien herangehen würden, würden wir zu guten und endgültigen Lösungen kommen.

Was meinen Sie denn damit?

Das Hauptproblem rührt daher, daß die Rechte der Serben in Kroatien von den Kroaten nicht anerkannt werden. Sehen Sie, 1,3 Millionen Mazedonier und zwei Millionen Muslimanen haben in den Augen mancher Politiker einen Anspruch und ein Recht auf die Selbstbestimmung, 1,5 Millionen Serben in Kroatien aber nicht. Das geht natürlich nicht.

Sie votieren also doch für Grenzveränderungen.

Wir haben keine territorialen Forderungen. Es geht uns nur darum, daß die Serben in Bosnien über nicht weniger Rechte in Bosnien verfügen sollen als die Kroaten und Muslime. Die Grenzen würden aber geändert, wenn Bosnien als unabhängiger Staat anerkannt würde. Dann würde eine bisherige Verwaltungsgrenze zu einer internationalen Grenze werden. Die Anerkennungen Kroatiens und Sloweniens bedeuten schon eine Grenzänderung. Die innerstaatlichen Grenzen werden also von jenen geändert, die sich für die Unabhängigkeit der jugoslawischen Grenzen einsetzen, und nicht von Serbien, das einen einheitlichen jugoslawischen Staat anstrebt.

Machen wir es doch mal praktisch. Wenn man an Serbien und Kroatien denkt, wo soll denn dann die Grenze sein? Soll das die jetzige Demarkationslinie sein, oder soll es eine sein, die sich an ethnischen Mehrheitsverhältnissen orientiert? Wie ist das zu machen?

Es stellt sich dort nicht die Frage der Grenzen, sondern die der Rechte der nationalen Minderheiten in der Baranja, Ostslawonien und Westsrem. Meiner Meinung nach wäre die beste Lösung, diese Gebiete unter der Obhut der UNO zu belassen, und zwar für eine längere Zeit. Das wäre ein Zeitraum von 15 bis 20 Jahren. Dieser Zeitraum würde es ermöglichen, daß die Gefühle sich beruhigen, also das Leben wieder das eigentliche Wort führt. Danach sollte ein Plebiszit ausgerufen werden, und dann würde das Volk die Frage über seinen endgültigen Status lösen. Dies wäre eine realistische, pragmatische und demokratische Lösung.

Die Serben, die in diesen Gebieten leben, haben eine schreckliche historische Erinnerung, sie haben einen Genozid erlebt. Wir dürfen nicht vergessen, daß auf diesem Gebiet das größte Konzentrationslager liegt, wo im Zweiten Weltkrieg 700.000 Serben, Juden und Zigeuner umgebracht wurden, nämlich Jasenovac. Die Situation der Serben in diesen Gebieten kann sehr gut mit derjenigen der Juden im Römerreich verglichen werden, die lieber den Tod wählten, als unter Römern leben zu müssen. Das kroatische Volk hat eine große moralische und historische Verpflichtung gegenüber dem serbischen Volk. In Deutschland müßte das angesichts des Genozids an den Juden gut verstanden werden.

Sicherlich ist auch weiterhin beschämend, daß es keine deutsche Regierung nach 1945 fertigbrachte, sich angesichts der Verbrechen, die auch in deutschem Namen verübt wurden, zu entschuldigen. Aber heute geht es auch darum, daß man mit diesem Trauma der Geschichte in Serbien versucht, Politik zu machen. Die heute begangenen Verbrechen an den Kroaten, ihre Vertreibung aus diesen Gebieten, wird mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs zugedeckt. Damit wird doch wiederum neuer Haß geschürt. Man muß doch bei dieser Geschichtsdiskussion an die Zukunft denken.

Richtig. Wir müssen uns der Zukunft zuwenden und nicht bei der Vergangenheit stehenbleiben. Der Krieg ist aber, und deshalb ist ihre Frage nicht richtig gestellt, auf den serbischen Gebieten in Kroatien entstanden, serbische Gebiete haben die meisten Zivilopfer zu beklagen. Hier in Belgrad leben 40.000 Kroaten, und denen geschieht nichts. In Zagreb mußten 60.000 von 120.000 Serben flüchten. Eigentlich sind Kroaten und Serben ein Volk, sie werden lediglich durch den Glauben und die geschichtlichen Geschehnisse getrennt. Sonst sind wir identisch, sogar was die schlechten Seiten anbelangt. Wir Serben hassen die Kroaten nicht, wir verstehen aber nicht, weshalb uns die Kroaten hassen. Dennoch sind wir bereit, die Zusammenarbeit mit Kroatien und Slowenien wiederaufzunehmen.

Bei den Verhandlungen werden Sie sicher gefragt werden, warum, wenn Sie die Selbstbestimmung für Serben in Kroatien verteidigen, dann nicht auch andere Minderheiten, etwa die Albaner im Kosovo, gleiches Recht erhalten.

Es gibt einen großen Unterschied zwischen den Serben in Kroatien und den Albanern im Kosovo. In Jugoslawien leben sechs konstitutive Völker. Nach der jugoslawischen Verfassung und den Prinzipien der KSZE haben diese Völker einen Anspruch auf Selbstbestimmung, die nationalen Minderheiten haben dies nicht. Natürlich haben sie einen Anspruch auf den Schutz ihrer Rechte. Die Albaner im Kosovo sind eine nationale Minderheit, die Albaner als Volk jedoch haben einen Staat, die Republik Albanien.

Es gibt viele nationale Minderheiten in Europa, die sich auf einen eigenen Staat beziehen können. So gibt es in Rumänien weitaus mehr Ungarn als Albaner im Kosovo. Aber sie haben in Rumänien nicht einen gesonderten Nationalstaat. In Bulgarien gibt es mehr Türken als Albaner im Kosovo, und kein Mensch stellt die Frage nach einem türkischen Staat im Rahmen Bulgariens.

Serben und Kroaten haben in einem gemeinsamen Staat Jugoslawien gelebt. Die Serben in Kroatien hatten keinen Staat außerhalb Jugoslawiens. Serben, die in Nachbarländern, in Rumänien, Ungarn und Bulgarien leben, stellen nationale Minderheiten dar und haben kein Recht auf nationale Selbstbestimmung. Immerhin haben die Serben in Bosnien und in Kroatien sich erst für Selbstbestimmung eingesetzt, nachdem diese Republiken eine Sezession angestrebt haben. In der serbischen Verfassung wird den Albanern im Kosovo die kulturelle und territoriale Autonomie gewährt. Doch sie wollen sich dieser Autonomie nicht bedienen.

Was erwarten Sie von Europa?

Daß die europäische Öffentlichkeit den Separatismus nicht unterstützt. Wir erwarten zudem, auch von den Albanern, daß die Verfassung Serbiens geachtet wird. Und wir erwarten, daß alle im Rahmen einer demokratischen Entwicklung nach Lösungen suchen.