„Der Bürgerkrieg ist einen Schritt nähergerückt“

Algeriens Militärregime ließ den Führer der FIS, Abdelkader Hachani, verhaften/ Der „Verfassungsrat“ plant ein Verbot der Parteien und die Auflösung der Gemeindeversammlungen/ „Das Regime wählt die Taktik der Dampfwalze“  ■ Von O. Fahrni u. L. Mechentel

Algier (taz) — Algier, Mittwoch, kurz nach Fünf. Abdelkader Hachani, der provisorische Präsident der Islamischen Heilsfront (FIS), ist unterwegs zu einem klandestinen Treffen mit dem FIS-Rat Majliss En- Choura. Bei Bach Djarrah, in der südlichen Banlieue der Hauptstadt, stoppen ihn Geheimpolizisten in sechs Fahrzeugen und nehmen Hachani fest. Er ist der neunte FIS-Chef in Militärgewalt. Hachani wird der Anstiftung zur Meuterei in den Streitkräften beschuldigt.

Mit der Verhaftung des gemäßigten FIS-Chefs verstärkt die Militärjunta den eisernen Griff um die Islamisten und treibt die Eskalation weiter. General Khaled Nazzar ist verärgert, daß es Hachani nach dem Putsch von vorletzter Woche geschafft hat, die Basis ruhigzuhalten. Trotz permanenter Provokation durch die Militärs beharren die Islamisten auf dem legalen Weg zur Macht, den ihr Wahlsieg am 26. Dezember vorgezeichnet hat. Jetzt macht Nezzar klar, daß er nicht das Einschwenken der FIS sucht, sondern die Zerschlagung der Islamisten-Bewegung. Das Regime erliegt einer gefährlichen Illusion: Bereits im Juni letzten Jahres wurden 8.000 FIS-Kader in Militärlager gesteckt, 200 gewählte Bürgermeister und die gesamte FIS-Führung verhaftet — ergebnislos. Nezzar will jetzt die Islamisten zu einem entscheidenden Fehler drängen: „Der Bürgerkrieg“, sagte gestern spät ein Beamter im Außenamt, „ist heute einen Schritt nähergerückt.“

Gleichzeitig verbot die Junta jede Versammlung um die Moscheen und alle politischen Predigten: Erste Schritte zu einer Auflösung der Islamistenpartei. Die Trennung von Politik und „Religion“ ist im radikalen Islam eine Illusion, und die FIS-Moscheen fassen am Freitag jeweils nur einen Bruchteil ihrer Anhänger — der Rest betet, gezwungenermaßen, auf der Straße. „Algerien“, hatte Hachani in einer seiner letzten Reden gesagt, „gleicht einem Mann, der eine abgezogene Granate in der Hand hält. Wenn die Junta ihre Methode nicht ändert, wird das Volk mit Gewalt reagieren, ohne unser Zutun. Die Junta will das Blutbad. Wir nicht.“ Dienstag abend versammelten sich im Volksquartier Bab-el- Oued kleine Gruppen Jugendlicher und bewarfen die Truppen an den Straßensperren mit Steinen und Flaschen. Sie riefen: „Wir sind die algerische Intifada.“

General Nezzar hat die Warnung Hachanis gewogen und für zu leicht befunden: Seine Truppen haben alle volksreichen Quartiere zwischen Oran und Annaba abgeriegelt. Systematisch werden dort die Häuser durchsucht. Wer Bart oder das lange Gewand der Islamisten (Khemis) trägt, muß sich unter Waffendrohung auf den Gehweg legen, die Hände im Genick. Der Befehl lautet: Demütigen, verhaften, erst dann identifizieren. Über 800 FIS-Kader sind in den Verhörkellern von Innenminister General Larbi Belkheir verschwunden.

Derweil arbeitet das von Nezzar eingesetzte „Hohe Staatskomitee“ in „permanenter Sitzung“ an einem Paket von Anti-FIS-Maßnahmen. Eine Gesetzesnovelle soll erlauben, die FIS und, im gleiche Zuge, die alte Einheitspartei FLN zu verbieten. Die Gemeindeversammlungen („APCs“) sollen aufgelöst werden. Die meisten algerischen Gemeinden werden seit Juni 1990 von den Islamisten regiert. In den Moscheen sollen künftig staatlich besoldete Prediger das Wort führen. Und das abgeschaffte Parlament wird durch einen „Konsultativrat“ ersetzt.

„Das Regime“, sagt ein Soziologe der Uni Oran, der für die sozialdemokratische Kabylenpartei FFS votiert hat, „wählt die Taktik der Dampfwalze. Jede abweichende Meinung soll totgedrückt werden. Die Medien sind schon gleichgeschaltet.“

Mit Hachani wurden am Mittwoch auch acht Journalisten der arabisch-sprachigen Tageszeitung 'El- Khabar‘ verhaftet. Die Zeitung hatte Aufrufe der FIS gedruckt. Ob die FIS-Kader am heutigen Freitag ihre Basis noch ruhighalten können, ist nach der Verhaftung Hachanis ungewiß. Said, 26, bereitet sich auf das Gröbste vor. „Es kann jede Stunde losgehen“, sagt der Ingenieur, „die Lage ist nicht mehr zu kontrollieren. Alles scheint ruhig. Aber es ist nur die äußere Sicht auf eine immense Wut, die gegen innen gekehrt ist. Der Weg heißt Gewalt, weil der Staat nur Gewalt ist.“

Said lebt im „Climat de France“, einem Wohnsilo für 4.000 Menschen, gleich hinter der Kasbah. Polizei und Militär werden hier seit je als Besatzungstruppen erlebt, „wie die Franzosen“, sagt Said. Er hat in den letzten Tagen als Kurier geholfen, Akten, Tonbänder, ein ganzes TV-Studio und große Packen Flugblätter der Islamisten in sicheren Wohnungen unterzubringen. Seine Instruktionen holt er sich in einer kleinen Moschee, die einem Bauplatz gleicht. Solange der letzte Stein nicht gefügt ist, entziehen sich die Bethäuser der offiziellen Kontrolle. Said: „Wir versuchen, unsere Quartierarbeit normal weiterlaufen zu lassen. Aber alle haben das Gefühl, daß der Moment der Wahrheit näherrückt. Und die brennende Frage ist dann: „Folgen die Militärs Nezzar und schießen auf 200.000, eine halbe Million, eine Million Menschen?“