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Rosinen für die Deutschen

In der CSFR mehren sich die Stimmen, die einen Ausverkauf der Industrie an deutsche Konzerne befürchten  ■ Aus Prag Sabine Herre

„Wenn die deutsche Wirtschaft sich erkältet, legt die tschechoslowakische sich mit Lungenentzündung ins Bett.“ Mit diesen Worten kommentierte die führende Prager Wirtschaftszeitung 'Gospodarsky noviny‘ den zunehmenden Einfluß deutscher Unternehmen in der CSFR. Auch in zahlreichen Fernseh- und Rundfunksendungen wurde nach dem jüngsten Vertragsabschluß zwischen Mercedes-Benz und den beiden Lkw-Produzenten Avia und Liaz warnend der Zeigefinger erhoben. Immer deutlicher werde der „deutsche Drang nach Osten“, so die Stimmen. Um ein neues „Protektorat Böhmen und Mähren“ zu verhindern, sollten bei der Privatisierung der Staatsbetriebe endlich auch einmal französische und amerikanische Unternehmer zum Zug kommen.

Auf den ersten Blick scheinen die schrillen Töne der Medien nicht unberechtigt. Die deutsche Wirtschaft hat inzwischen einen Anteil von über 50Prozent der ausländischen Beteiligung erreicht. Von den 1,4 Milliarden Mark, die ausländische Unternehmer in den kommenden drei Jahren in der CSFR investieren werden, entfallen allein 380 Millionen auf Mercedes-Benz; die Gesamtinvestitionen der Volkswagenwerke beim Autoproduzenten Skoda werden für die nächsten zehn Jahren auf zehn Milliarden Mark geschätzt. Und das Wirtschaftsleben entlang der rund 800Kilometer langen deutsch-tschechischen Grenze wird zunehmend von kleinen und mittleren Unternehmern aus Bayern und Sachsen bestimmt.

Doch die Befürchtungen eines zweiten „Protektorats“ sind verfehlt. Zwar lag der Anteil des deutschen Kapitals zwischen 1939 und 1945 mit 61,6Prozent nur um wenig über der derzeitigen deutschen Beteiligung, doch erreicht der heutige Gesamtanteil ausländischer Unternehmen an der tschechoslowakischen Wirtschaft mit zehnProzent bei weitem nicht den Stand der Kriegszeit. In der ersten Republik wurden die ausländischen Industrieanteile zudem zu 45Prozent von französischen und englischen Firmen dominiert.

Um so erstaunlicher ist es, daß die französische Wirtschaft heute meist das Nachsehen hat. Die Gründe hierfür sieht das Prager Privatisierungsministerium in der „zögernden, abwartenden Haltung“ der Franzosen. Demgegenüber seien die Deutschen in der Lage, schnell ihre Angebote zu verbessern; hinzu kämen die besseren Kenntnisse der Bedingungen in dem Nachbarland.

Die von der Presse erhobenen Vorwürfe, daß deutsche Unternehmer auch Einfluß auf die Privatisierungskomissionen nehmen wollten, wurde strikt zurückgewiesen. Schließlich würden über die Privatisierung rund 35 Vertreter verschiedenster Ministerien und Parlamente entscheiden — diese könnten nicht alle bestochen werden.

Doch das endgültige Machtwort spricht die tschechische Regierung. Und obwohl auch diese sich über den wachsenden Einfluß des deutschen Kapitals nicht gerade erfreut zeigt, weiß man nur zu gut, daß die tschechische Wirtschaft die Investitionsspritzen bitter nötig hat. Nach dem Zerfall des sowjetischen Marktes sowie der Zahlungsunfähigkeit vieler ehemaliger Comecon-Abnehmer haben sich allein bei den Staatsbetrieben, die dem tschechischen Industrieministerium unterstehen, Schulden von 80 Milliarden Kronen (rund 4,5 Milliarden Mark) angehäuft. Nach Untersuchungen ausländischer Wirtschaftsexperten benötigten die ehemaligen Ostblockstaaten samt Jugoslawien in den nächsten zehn Jahren Investitionen in Höhe von 420 Milliarden US-Dollar. Unbestritten jedoch ist, daß dieses Kapital nur zum geringsten Teil von der Bevölkerung und den wenigen Privatunternehmern des Landes aufgebracht werden kann. Aus diesem Grund hat Finanzminister Vaclav Klaus schließlich die Methode der sogenannten „Kupon-Privatisierung“ entwickelt: Die Aktien der Staatsbetriebe sollen kostenlos verteilt werden.

Wegen des Kapitalmangels sind die beiden Regierungen auch bereit, den ausländischen Investoren weit entgegenzukommen. Für VW genehmigte Klaus eine zweijährige Steuerbefreiung; die Umsatzsteuer wurde von 32 auf 20Prozent gesenkt. Trotz Protesten von Fachleuten wird zudem eine mehr als 50prozentige Beteiligung an den traditionsreichsten Firmen und der damit häufig verbundene Verlust des Firmennamens in Kauf genommen. Dennoch versuchen die Ministerien, die Interessen der CSFR so gut wie möglich zu verteidigen. Die Forderungen von Mercedes-Benz nach einer zehnjährigen Steuerbefreiung wurden sofort als „völlig unrealistisch“ zurückgewiesen; selbst mit dem tschechisch-amerikanischen Schuhfabrikanten Bata, den die Ministerien nicht zuletzt aus historischen Gründen wieder ins Land holen wollten, wurden monatelange zähe Verhandlungen geführt. Einen Riegel will man den ausländischen Interessenten auch beim „Familiensilber“ der böhmischen Industrie vorschieben. Glas- und Porzellanfabriken sollen in tschechischen Unternehmerhänden bleiben.

Dennoch scheint Finanzminister Klaus eine zu weitgehende Kompromißbereitschaft der tschechischen Regierung zu befürchten. Der überzeugte Marktwirtschaftler ist seit langem der Ansicht, daß die tschechoslowakischen Betriebe erst nach der Kupon-Privatisierung über die Beteiligung ausländischen Kapitals verhandeln sollten. Privatunternehmen könnten in jedem Fall besser als der Staat und die von diesem eingesetzten Betriebsleiter entscheiden.

Tatsächlich sind in den letzten Wochen gerade diese Betriebsleiter ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik geraten. Da sie die Probleme ihres Unternehmens auf möglichst einfache Weise lösen wollen, würden sie die besten Teile verkaufen, die schlechten aber der Bevölkerung zur Kupon-Privatisierung überlassen. Den Medien fiel auch hierzu ein passendes Bild ein: „Den Deutschen die Rosinen, den Tschechen die sauren Trauben.“

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