Kein Grund zum Therapiepessimismus

■ Von 8.000 ehemaligen Drogenabhängigen haben 70 Prozent ihre Therapie erfolgreich abgeschlossen/ Notdienst für Suchtmittelgefährdete und -abhängige stellt »Jahrbuch Sucht« vor

Obwohl die Zahl Heroinabhängiger in West-Berlin ständig steigt, gibt es im Ostteil noch keinerlei Anzeichen für eine Verbreitung illegaler Drogen. Das berichtete Michael Hoffmann-Bayer, Leiter des Notdienstes für Suchtmittelgefährdete und -abhängige Berlin e.V. bei der Vorstellung des Jahrbuchs Sucht '92. 8.000 Heroinabhängige hatte Berlin 1991 zu verzeichnen. Dabei sind die Erstgebraucher meist älter als früher. Während der durchschnittliche Notdienst-Klient noch 1984 24 Jahre alt war, ist er heute 28.

Neben der Zahl der Drogentoten ist nach nach Angaben Hoffmann- Bayers auch die Zahl der Ausstiegswilligen gestiegen. »Wir haben Wartezeiten von zwei bis drei Wochen für Leute, die von der Spritze weg wollen.« Immer mehr Junkies in Berlin kombinierten verschiedene Drogen wie Tabletten, Heroin und Alkohol miteinander. »Das könnte ein Grund für den Anstieg der Drogentotenzahlen sein«, so Hoffmann-Bayer.

In der Berliner Suchtkrankenhilfe wünscht er sich die Einbeziehung medizinischer Hilfe, um der Verelendung der Junkies entgegenzuwirken, die erfahrungsgemäß nicht zu niedergelassenen Ärzten gingen. Mit den Krankenkassen müsse deshalb über neue Finanzierungsformen verhandelt werden. Diese bezahlen nur die Behandlung niedergelassener Ärzte und nicht die der Drogenvereine.

Aus Anlaß der Veröffentlichung ihres Jahrbuchs zog die Deutsche Hauptstelle für Suchtgefahren (DHS) vorgestern Bilanz der Suchtproblematik in der Bundesrepublik. 250.000 Männer und Frauen werden jährlich von illegalen und legalen Drogen abhängig — das ist ein Zuwachs von fünf bis 10 Prozent. Die Zahl der Hilfesuchenden in der Suchtkrankenhilfe hat nach Angaben des DHS-Geschäftsführers Rolf Hüllinghorst in den vergangenen Jahren um 60 bis 80 Prozent zugenommen, während der Personalschlüssel derselbe blieb. Dabei widersprach er dem steigenden Therapiepessimismus in der Bevölkerung. Von knapp 8.000 behandelten Menschen hätten 1990 70 Prozent ihre Therapie erfolgreich abgeschlossen. Standarddroge der Deutschen ist immer noch der Alkohol: 591 Mark hat jeder 1990 dafür statistisch ausgegeben. »Wenn man sieht, was der normale Bürger säuft, wird einem schwindlig«, sagte Bernd Wünschmann, Öffentlichkeitsreferent der DHS. Dem Elendsalokoholismus stehe ein wachsender Wohlstandsalkoholismus gegenüber. Zweieinhalb Millionen sind nach DHS-Schätzungen alkoholabhängig, davon eine halbe Million in der ehemaligen DDR.

In den fünf neuen Ländern steigt nach Angaben von Ilona Stoiber (DHS) auch der Konsum von Psychopharmaka, die mit einem Marktanteil von fünf Prozent auf Platz zwei der Medikamentenstatistik stehen — gleich hinter den Herzmitteln. Viele Ärzte in der Ex-DDR gingen auch aufgrund ihrer Unkenntnis »nicht fach- und sachkundig« mit Psychopharmaka um, berichtete Stoiber. Allein in den alten Bundesländern mache die Arzneimittelindustrie mit Psychopharmaka einen Jahresumsatz von 1,5 Milliarden Mark.

Bei illegalen Drogen »werden inzwischen Gedanken formuliert, an die sich vor drei bis vier Jahren niemand herangetraut hätte«, faßte Jost Leune (DHS) die Legalisierungsdebatte zusammen. Steigendes Risiko bei sinkendem Preis kennzeichneten den Markt — die Todesfälle haben sich 1991 um ein Drittel auf über 2.000 erhöht. Vor diesem Hintergrund regte Leune an, Abhängige zu entkriminalisieren und den Kauf und Verkauf von bestimmten Tagesrationen straffrei zu gestalten. »Der Staat könnte ohne weiteres Mengenangaben in das Betäubungsmittelgesetz aufnehmen«, so Leune. »Aber offensichtlich wünscht er nicht, daß Drogenabhängige straffrei konsumieren dürfen.« Dabei sei dies ein möglicher Weg, die Todesrate zu senken. »Solange sie sich strafbar machen, kommen wir an Sie nicht heran.« Jeannette Goddar

Jahrbuch Sucht, erhältlich bei der Neuland-Verlagsgesellschaft, Markt 24—26, 2054 Geesthacht