Piazollas Tangos und die Rückkehr der Toten

■ Kolumbus-Jahr 1992: Das ZDF zeigt eine Reihe mit argentinischen Filmen

Zwingenden Niederschlag muß das Kolumbus-Jahr auch in den Programmen der öffentlich-rechtlichen Anstalten finden. Die ARD etwa sendet über das Jahr verteilt zahlreiche Dokumentationen und Reportagen zum Thema. Dem lateinamerikanischen Filmschaffen widmet sich hingegen vorrangig das ZDF und zeigt im ersten Halbjahr zunächst eine Auswahl jüngerer argentinischer Produktionen. Denen sollen in der zweiten Jahreshälfte Beispiele des chilenischen, brasilianischen, mexikanischen, puertorikanischen und bolivianischen Kinos folgen. Zwei Sendungen der Reihe Filmforum berichten über die argentinische Filmindustrie, die seit Ende der Militärdiktatur eine Vielzahl interessanter Produktionen hervorgebracht hat, unterstützt von der 1986 installierten staatlichen Filmförderung.

Das ZDF beginnt seine Reihe mit einer der profiliertesten argentinischen Regisseurinnen. Maria Luisa Bemberg hat sich zur Aufgabe gemacht, „die Situation der Frau in unserer Gesellschaft darzustellen, ihre systematische Verdummung, ihre fortgesetzte soziale, ökonomische und emotionale Abhängigkeit anzuklagen, all das, was eine Frau unfrei macht“.

Die Leidenschaft der Miss Mary (26.Januar) spielt 1930, nach dem Militärputsch. Altertümliche Moralvorstellungen beherrschen das gesellschaftliche Klima im Land; die Repression ist allgegenwärtig. Mary Mulligan (Julie Christie), eine irische Erzieherin, bekommt die Auswirkungen zu spüren, als sich der ihr anvertraute 15jährige Johnny in sie verliebt.

Am 5.April folgt ein weiterer Film von Maria Luisa Bemberg mit dem Titel Ich, die Schlechteste von allen. Im Mittelpunkt steht die Nonne Juana Ines de la Cruz (1648-1695), die wegen ihrer schriftstellerischen Tätigkeit von der damaligen Kirchenführung mit Sanktionen belegt wurde.

In Der Junge, der ein Mädchen ist (6.Februar) schildern Regisseur Lautaro Murua und sein Autor J.M. Paolantonio in freier Bearbeitung einer wahren Begebenheit den Lebensweg eines Waisenmädchens, das sich als Junge ausgibt, um in den Slums überleben zu können. Das US-Branchenblatt 'Variety‘ hob namentlich die Leistung der jungen Hauptdarstellerin hervor: „Sie ist witzig und rührend mit gleicher Intensität..., eine wahre Rebellin, die nie zurücksteckt, wenn ihre Freiheit oder Ehre in Gefahr ist.“

In argentinisch-französischer Co- Produktion entstand der Film Tangos (27.Februar) von Fernando Solanas. Eine Gruppe politischer Flüchtlinge arbeitet in Paris mit französischen Freunden an einem Theaterstück über das Exilleben des Tango-Musikers Carlos Gardel. Die Texte schreibt der in Buenos Aires lebende Dichter Juan Uno. Allerdings erhalten die Schauspieler immer nur Fragmente und müssen sich die fehlenden Teile selbst erarbeiten. Solanas über seinen Film: „Ich wollte die Geschichte der Musik und der Kreativität und die eigene Geschichte der Exilierten miteinander verschmelzen. Dieses Schauspiel im Innern eines anderen Schauspiels, das keine Ende hat, und das Thema der Suche nach einer Sprache und einer Identität, die Teil eines Ganzen sind.“ Die Hauptrollen spielen Marie Laforêt, Philippe Léotard, Miguel Angel Sola und Marina Vlady. Die Musik schrieb Tango-Fachmann Astor Piazzolla.

Der Film des Königs (12.März) ist eine phantasievoll bebilderte Parabel auf das argentinische Filmgeschäft, voller Galgenhumor und schrägem Witz; ein Sujet wie für Werner Herzog gemacht, aber glücklicherweise von Carlos Sorin verfilmt: Während der Vorbereitungen zu einem Film über den Abenteurer Orälie Antoine de Tounnens, der sich Mitte des 19.Jahrhunderts selbst zum König Argentiniens kürte und von der Regierung verjagt wurde, läßt der Finanzier das Team im Stich. Dennoch will der Regisseur das Projekt realisieren. Er ersetzt seine Schauspieler durch Passanten von der Straße, improvisiert und spart, wo immer es geht. Am Drehort in Patagonien kulminieren die Schwierigkeiten. Die absurden Bemühungen des von seiner Arbeit völlig besessenen Regisseurs gleichen den wahnwitzigen Unternehmungen seiner Filmfigur. Am Ende inszeniert dieser nur noch Schaufensterpuppen anstelle von Schauspielern und fungiert als sein eigener Hauptdarsteller.

Die jüngere argentinische Geschichte reflektiert Miguel Pereiras In der Ferne liegt das Meer (29.März). Veronico, ein verwaister Indio-Junge, lebt in einem entlegenen Andendorf. Der Lehrer des Ortes nimmt sich seiner an und erzählt ihm vom Meer und den Schiffen. Der Junge, dessen Vater Opfer des Militärregimes wurde, träumt davon, eines Tages selbst zur See zu fahren. Jahre später wird der Traum wahr, aber auf bestürzende Weise: Veronico gehört zur Besatzung des Kreuzers „Belgrano“, der während des Falkland-Krieges von der britischen Kriegsmarine versenkt wird.

Ohne Wehleidigkeit, mit den Zutaten populärer Genres und mit hintergründigem Witz schildert Alejandro Agresti in Ein Toter kehrt zurück (30.April) die Versuche eines ehemaligen Widerstandskämpfers und seiner Umgebung, die bedrückenden Erfahrungen mit der Gewaltherrschaft zu überwinden. Zu Beginn läuft ein nackter Mann durch Buenos Aires. Er kommt aus dem Nirgendwo und hat kein eigentliches Ziel. Polizisten nehmen ihn fest und ermitteln seine Identität: Der Fremde ist Fermin Garcia, der dreizehn Jahre zuvor von den Schergen des Militärregimes gefaßt und angeblich ermordet wurde. Fermins Erinnerung ist getrübt. Er kehrt zurück in sein Heimatdorf, wo ihn niemand erkennt, nicht einmal seine frühere Verlobte Tota, die noch immer auf ihn wartet. Unter anderem Namen versucht er, sich eine neue Existenz aufzubauen und Totas Zuneigung zu gewinnen. Da meldet sich ein Erpresser und droht, Fermins Geheimnis zu verraten.

„Ich weiß, daß ich ein Kino mache, das nicht üblich ist“, bekannte der 1961 geborene Regisseur Alejandro Agresti, der 1979 seinen ersten Kurzfilm drehte und bereits 1985 mit Der Mann, der seinen Verstand zurückgewann einen nicht minder eigenwilligen, atmosphärisch dichten Film präsentierte. Zu Ein Toter kehrt zurück sagte der heute in den Niederlanden lebende Filmemacher: „Die Seele des Films sind diese beiden Figuren: Tota und Fermin. Er, der nackt durch die Straßen läuft und sein Gedächtnis verloren hat. Und sie, die zwar immer noch auf ihn wartet, ihn aber nicht wiedererkennt. Was geschieht mit ihnen und den Menschen um sie herum? Es geht darum, daß jeder im anderen sieht, was er sehen will. Alles ist ein Mißverständnis.“ Mr.Ed