Goethes Revolutionsalptraum

■ Ruth Berghaus inszeniert Goethes selten gespieltes dramatisches Fragment „Die natürliche Tochter“ in Bonn

Unspielbar, gescheitert und futil! So ruft der Chor der Kritiker dem armen Mädchen nach, seit 1803, seit ihrem Debüt im Weimarer Musentempel. Kaum ein Theater wagte es daher, Goethes Stiefkind wieder aufzuführen. Lang ist die Liste ihrer Sünden: schablonenhafte Figurenzeichnung, widersprüchliche Handlung, blinde Motivierung, nebulöse Sprache, politische Inkonsequenz.

Goethe und die Französische Revolution — eine Tragödie: Deutschlands Großgenie und Kleinstaatsbeamter müht sich unermüdlich, Frankreichs Großereignis in Literatur zu verwandeln. Doch gleich, ob Prosa, Versepik, Komödie oder Trauerspiel — es wird nicht viel daraus, anderes drängt sich in den Vordergrund. Die natürliche Tochter ist ein besonders beklagenswerter Sproß aus dieser illegitimen Mesalliance zwischen dem Weimarer Geheimrat Goethe und der Pariser Straßendirne Revolution. Eine Triologie wie Aischylos' Orestie oder zumindest Schillers Wallenstein sollte es werden. Es blieb beim Fragment des ersten Teils.

Die außereheliche Tochter eines Herzogs, mit dem Gattungsnamen Eugenie, die Wohlgeborene, soll feierlich am Königshof zum legitimen Kind ihres Vaters erklärt werden. Vor der Zeremonie wird sie jedoch von ihrer Hofmeisterin entführt, im Auftrag ihres ehelichen Halbbruders. Der König deckt die Intrige. Das arme edle Mädchen kann sich vor der Deportation auf eine Sträflingsinsel nur durch die Heirat mit einem bürgerlichen Juristen retten. Ein Revolutionsdrama ohne Revolution, ein politisches Drama ohne Politik, ein Kolportageroman im klassizistischen Tragödienton.

„Traumwahrheit“ sei das Theater, schreibt Franz Kafka in einer Tagebuchnotiz, die das Programmheft der Bonner Aufführung abdruckt. „Je traumhafter sie sich aufbläst, desto kühler muß man sie anfassen.“ Das Drama schwebe in der Luft „als ein ganzes Gebäude, dessen Grundmauern mit einer heute noch dem Irrsinn sehr nahen Kraft aus der Erde hinauf gerissen worden sind“, weissagt Kafka. Hier sind die Stichworte für Ruth Berghaus' Inszenierung schon versammelt: traumhaft, kühl, dem Irrsinn nahe.

Als Traum, so wird Goethes verunglücktes Geschichtsdrama spielbar. Im Traum sind Widersprüche logisch, im Traum sind Archetypen individuell, im Traum sind vage Worte deutlich. Kühl und distanziert betrachtet die Inszenierung Goethes Alptraum vom Sturz der Monarchie. Kein waberndes Geschlinge, keine Seelenglut, sondern technische Konstrukte dominieren die Bühne. Die Schräge, auf der das Ancien Régime ins Rutschen kommt, ist aus Metall, ein großer durchsichtiger Wandschirm bewegt sich über die Bühne, der Boden tut sich auf und enthüllt das Vorzimmer der Intrige als Unterhölle. Eisengitter halten das verbannte Aristokratenkind gefangen. Dem Irrsinn nahe kann so eine Inszenierung dem erscheinen, der Erbauung beim Oberklassiker sich wünschte. Und wenn's auch Wahnsinn scheint, so hat es doch Methode: der Oberflächensinn der Worte wird schnell weggesprochen, eilig deklamiert, zugedeckt mit melodramatischer Musikbegleitung. Der Tiefensinn wird überdeutlich in Körper- und Bildersprache ausgedrückt.

Die beiden Aristokraten, König und Herzog, eröffnen das Stück im vertrauten Gespräch. Ruth Berghaus läßt sie dabei mit Schwert und Lanze sich zeitlupenlangsam in Kampfposen drehen. Unter der Oberfläche des Dialgos lauert der Machtkampf einer instabilen Herrschaft, heißt das. Die Hofmeisterin bringt Eugenie den Koffer mit Prachtgewändern für das Hofzeremoniell. Gemeinsam packen sie die Kiste aus. Eine weiße, endlos lange Stoffbahn ziehen sie heraus, dann einen roten, ebenso unendlichen Schal. Diese Bahn legt die Hofmeisterin um Eugenies Hals und zieht daran. Nun hat sie ihren Zögling eingewickelt und kann sie nun entführen.

Als Eugenie zunächst den Heiratsantrag des biederen Gerichtsrats ablehnt, steigt sie auf einen ausgestopften Schimmel, liebkost ihn und ruft dem Bürger triumphierend zu: „Ich kann dir leider, wie du wünschest, nicht gehören.“ Eugenie bleibt auf ihrem hohen Roß, kalauert die Regie. Am Ende, als Eugenie sich's anders überlegt und einwilligt in die erniedrigende Ehe, stehen die beiden Partner jeweils am äußersten Bühnenrand, gehen aufeinander zu mit ausgestreckten Armen und verfehlen das Happy-End haarscharf. Sie kriegen sich nicht, sondern marschieren zentimetergenau umarmungswillig aneinander vorbei. Auch die utopische Versöhnung von Bürgertum und Adel, die Staatsminister Herr von Goethe so gerne hier ins Bild gesetzt sähe, geht am Ende schief. Und außerdem muß hier mal wieder eine Frau der öffentlichen Wirksamkeit entsagen und sich dem tristen Familienleben widmen.

Die Traumbilder der Inszenierung sind doch immer konstruiert. Ein „Dies bedeutet das“ ist immer schon mitgedacht und mitgesehen. Diese Träume sind nachträgliche Synthesen einer Analytikerin. Das Ganze wäre ein psychopolitisches Bilderrätsel mittleren Schwierigkeitsgrades, wenn es in Bonn nicht auch zwei Schauspieler gäbe: Sandra Flubacher als Eugenie und René Toussaint als Gerichtsrat. „Aufgabe der Schauspieler ist“, schreibt Kafka, „das Drama in seiner höchsten Entwicklung ... erträglich zu machen.“ Die Bonner Eugenie hüpft und turnt herum mit mädchenhaftem Charme, ohne naiv zu sein: Diva und Landpomeranze zugleich. Der pedantische Bürgerpatriarch, bei dem sie dann unterkriecht, ist ein Prinzipienreiter, ein Feigling und ein erbarmungsloser Liebhaber. Nur diesen beiden Darstellern gelingt es, außer Sprechmaschinen auch noch Menschen zu sein. Sie geben ihren Figuren etwas von sich mit. Sie tragen ihre Rolle „gelockert, zerfasert, wehend um sich“, wie Kafka schreibt.

So kann man an dieser Aufführung zweierlei bewundern: wie man Goethes Drama spielbar und wie man Ruth Berghaus' Inszenierungsstil erträglich macht.Gerhard Preußer

J.W. Goethe: Die natürliche Tochter , Schauspiel Bonn (Kammerspiele Bad Godesberg). Regie: Ruth Berghaus. Bühne: Peter Schubert. Mit Sandra Flubacher, René Toussaint, Susanne Seidler. Weitere Vorstellungen: 26., 30. Januar und 1., 5., 6., 12., 15., 18., 19., 28. Februar.