: „Das Leben wird immer schwerer"
■ In Ungarn hat sich nach den jüngsten Preiserhöhungen die soziale Lage weiter verschlechtert
Aus Budapest Keno Verseck
„Was wollen Sie denn mit einem halben Kilo Möhren? Ein ganzes ist doch viel besser. Und hier sind noch schöne schwarze Rettiche.“ Die freundliche alte Frau auf dem Lehel- Platz müht sich, ihr Gemüse an die Leute zu bringen. Sie hat den kleinen Nebenerwerb bitter nötig, denn mit einer monatlichen Rente von 5.000 Forint (rund 100 Mark) liegt ihr Einkommen nur knapp über der Hälfte des derzeitigen Existenzminimums. Zweimal pro Woche fährt sie aus dem Budapester Vorort Rákospalota zum Lehel-Platz, einem der größten Märkte in der ungarischen Metropole, um dort Gemüse und Eingemachtes aus ihrem kleinen Garten feilzubieten. Auf die jüngsten Preiserhöhungen angesprochen, schwindet ihr Lächeln. „Das Leben hier wird immer schwerer“, sagt sie desillusioniert.
Die Frau vom Lehel-Platz ist eine von mehr als zwei Millionen Ungarn, die laut György Mezei, Leiter des Újpester Familienhilfszentrums, derzeit unter dem Existenzminimum leben. Die meisten haben sich an die regelmäßigen Preissteigerungen wie an ein unausweichliches Opferritual gewöhnt. Pünktlich zum Jahresbeginn stiegen diesmal unter anderem die Wassergebühren um 60 Prozent, die Nahverkehrstarife um 35 Prozent, die Preise für Benzin und Heizöl um fünf bis zehn Prozent; für Zigaretten, Alkohol und andere Genußmittel mußten durchschnittlich 15 Prozent mehr hingeblättert werden. Eine weitere bittere Pille wird den Ungarn Anfang Februar verabreicht, wenn sich Milchprodukte um 18 Prozent sowie Post- und Bahntarife um 25 Prozent verteuern. Zwar werden in den kommenden Monaten zum Ausgleich auch die Löhne und Gehälter angehoben; mit dem durchschnittlichen Anstieg der Lebenshaltungskosten um 25 Prozent können sie jedoch bei weitem nicht schritthalten. Die soziale Lage im Land hat sich in den letzten Monaten deutlich verschlechtert.
Die ungarischen Regierungsmitglieder geben sich ungebrochen optimistisch. Auch sie wissen, daß das Zehn-Millionen-Land seine bescheidenen wirtschaftlichen Erfolge wie den Rückgang der Inflationsrate oder die Konsolidierung des Außenhandels im vergangenen Jahr nur erzielen konnte, weil die Bevölkerung noch mehr als bisher die Lasten trug. Béla Kádár, Minister für internationale Wirtschaftsbeziehungen, geht jedoch davon aus, daß die Talsohle der ungarischen Wirtschaft in der zweiten Jahreshälfte durchschritten und der Lebensstandard nicht weiter absinken wird. Die Regierung rechnet zwar mit einem Nullwachstum und einem Anwachsen der Arbeitslosenzahlen von derzeit 350.000 auf 500.000; die Inflationsrate werde aber gegenüber dem Vorjahr von 36 Prozent auf 20 bis 25 Prozent sinken. Seine Zuversicht begründet Kádár zum einen mit der erfolgreichen Schwerpunktverlagerung des ungarischen Außenhandels nach dem Zusammenbruch des Comecon-Marktes in Richtung Westen. Außerdem führt er an, daß bereits 90 Prozent der Preise liberalisiert und die Preissubventionen fast vollständig abgebaut wurden. Solchen Optimismus hält Márton Tardos, Wirtschaftsexperte und Fraktionschef der größten Oppositionspartei Bund Freier Demokraten (SZDSZ) für Schönfärberei. Ein wesentliches Hindernis für einen baldigen Wirtschaftsaufschwung sieht er in der verzögerten Privatisierung, deren Ergebnisse im letzten Jahr weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind. Nach Meinung regierungsunabhängiger Ökonomen wird auch die Inflationsrate nicht in dem von der Regierung verkündeten Maße sinken. Verantwortlich dafür wird in erster Linie das Hyperdefizit im Staatshaushalt sein, das im letzten Jahr mit 114,2 Milliarden Forint (rund 2,3 Milliarden Mark) um fast 40 Milliarden Forint höher lag, als ursprünglich eingeplant war. Ungarn glänzt seither mit der höchsten Pro-Kopf-Verschuldung aller ehemaligen Ostblockstaaten. An der Budgetpolitik der Regierung indes hat sich wenig geändert. Zwar machen die radikal zusammengestrichenen Subventionen nur noch 4,6 Prozent des gesamten Budgets für 1991 aus; kräftig aufgestockt wurden aber die Unterstützungs- und Entschädigungssummen für Kirchen, parlamentarische Parteien und von den Kommunisten enteignete Unternehmer und Grundbesitzer. Bei den Sozialleistungen setzte die Regierung wiederum kräftig den Rotstift an und bürdet der Bevölkerung noch weitere Opfer auf. Mehrere hundert Änderungsanträge der Opposition zum Haushalt 1992 wurden in einer 50stündigen Mammutsitzung an Silvester niedergeschmettert. Für László Kövér, Abgeordneter der zweitgrößten Oppositionspartei Bund Junger Demokraten (FIDESZ), glich die Prozedur einer einzigartigen Parodie.
Auch vorsichtige Proteste aus der Bevölkerung lassen die Regierung kalt. So zeigte sie sich selbst nach einem landesweiten zweistündigen Warnstreik im Dezember nicht bereit, auf gewerkschaftliche Forderungen nach einer Verbessersung der sozialen Lage einzugehen — eine Haltung, die János Palotás, Vorsitzender des Landesverbandes der Unternehmer (MOSZ) und selbst Abgeordneter der größten Regierungspartei Ungarisches Demokratisches Forum (MDF) scharf kritisiert: „Die Regierung darf nicht auf ihrer starken Position beharren, sondern muß auf Zeichen wie den Warnstreik durch konkrete Angebote reagieren.“
Doch mittlerweile haben sogar Budapests TaxifahrerInnen resigniert. Eine landesweite Verkehrsblockade — wie im Herbst 1990 aufgrund von Benzinpreiserhöhungen initiiert — würde derzeit nicht mehr stattfinden. Daß die diesjährigen Benzinpreiserhöhungen „unkorrekt und nicht notwendig“ seien, „wo doch auf dem Weltmarkt die Ölpreise sinken“, finden alle Taxifahrer, aber tun, so sagen sie jetzt, könne man nichts dagegen. Ein älterer Chauffeur, der mit seinem Lada am Batthyány-Platz steht, bringt die Stimmung unter seinen Kollegen auf den Punkt: „Alle Welt schaut auf die Sowjetunion und Jugoslawien. Und wir? Wir stehen hier rum, und keiner steigt ein.“ Keno Verseck
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