„Gepfiffen durch den Opernsaal der Nacht“

■ Schlechte Gedichte vom Träger des Bremer Literaturförderpreises 1992: Durs Grünbein (29) und seine „Schädelbasislektion“

Die Schädelbasis ist empfindlich. Eine Fraktur in diesem Bereich kann den Tod bedeuten.

Durs Grünbein, geb. 1962, wohnhaft in Berlin, hat seinen neuen Geichtband Schädelbasislektion genannt. Ein gewichtiger Titel, knapp 150 Seiten Lyrik, und, um es gleich zu sagen: der Dichter ist gebildet und ruft als Zeugen auf: Charles Peirce, Shakespeare, Shelley, Leonardo, T.S.Eliot, W.H.Auden und andere, die zitiert werden oder ganzen Zyklen mit Zitaten vorangehen.

Durs Grünbein ist formal brillant; was heißen soll, er beherrscht einige Tricks der Poesie des 20. Jahrhunderts: die Ellipse, das Zitat, Einschübe, die Wissen

hierhin bitte

das Bild von den

Armen mit Totenschädel

schaftssprache. Seine Geichte erzählen von Schmerz, Angst, überfrachtetem Denken. Sie berichten auch vom Ende, vom Zerfall der Sprache.

Das klingt interessant. Und trotzdem langweilen mich diese Gedichte. Das ist alles zuviel, viel zuviel. Jede Zeile ist vollgestopft mit Information. Geschehenes, Erlebtes, Erfahrenes gerät augenblicklich in den Mahlstrom hy

Was uns die Schädelbasis erzählt. Aus: Peer Meter/Christian Gorny, „Haarmann“, Carlsen-Verlag 1990

perintellektueller Deutung. Und erliegt so gnadenlos der Festschreibung durch die Wörter. Die sezierte, festgeschriebene Welt. Unlesbar. Belegt mit einem Bombardement von Begriffen.

Ich meine, das Geheimnis der Poesie, von Sappho bis Bukowski, ist ihre Offensichtlichkeit, ihre Fähigkeit, die Welt zu klären und sichtbar zu machen. Unmittelbar tritt sie hervor und ist da. Der Zerfall der Sprache hat niemals stattgefunden; ihr Reichtum sowie ihre Grenzen sind variabel.

Bei Grünbein gibt es eine eigentümliche und doch leider so bekannte Unlust, sich zurückzunehmen:

Dasein als Zellverkehr...in Einzelzellen? / Auch du, für diesen Zeitfilm chromosom-/ getreu kopiert, steckst tief in deiner Zelle. / Man hat nicht erst gefragt, ob du das willst. / Geboren bist du, wie du sterben wirst: / Durch Zufall, der sich nun mit Liebe tarnt, / Mit List, Begehren...Neuigkeiten ...Sperma./ Und manchmal Arien

hierhin bitte das

große Bild mit

Totenschädel

durch den hohlen Zahn / Gepfiffen durch den Opernsaal der Nacht. (Casta Diva)

Das ist einfach nur poetisches Geschnurre, selbstgefälliges Gerede.

Grünbein hat einen Zyklus Allen Versuchshunden der Med. Akademie der russichen Armee

gewidmet. Das ist deutlich und hätte genügt, rückhaltlos und dem Leiden angemessen vom Leiden zu schreiben. Die zwölf dann folgenden Gedichte verbauen das alles nur wieder. Ein Zitat:

Nur Ethnologen haben den Komplizenblick / Der Angst begreift. In ihren Studien kommt / Das Tier als Mensch oft vor. Was mich betraf / Ich lag in einem tiefen Schlaf. Ich war / Ein Automat, der leicht auf Knopfdruck kam. / Wohin ich kam, kam ich umhin. Von A / Nach B (und umgekehrt) der schnellste Weg / Wo Mißtraun Bögen schlägt, ist die Ellipse.

Nach einer Stunde Lektüre begann tatsächlich meine Schädelbasis zu summen, vor soviel Bluff und der Ahnung, Durs Grünbein könnte, wenn er sehen lernte, ganz andere Gedichte schreiben. Anders als so:

Faule Tomaten, zerdrückt, in einer Blechschüssel schräg / Unterm Küchenfenster / Das Mekka der Essigfliegen, verwirrt / Durcheinanderzuckend / Im kollektiven Gebet.

Francis Ponge hat einmal bemerkt, die Welt der Dinge schulde ihm nichts, er hingegen schulde ihr alles. So entsteht Denken, Mitgefühl, genau und unsentimental.

Durd Grünbein spricht von der Krankheit Denken, schrecklich. Ich weiß nicht, es kommt wahrscheinlich darauf an, wie gedacht wird, und wohin. Poesie jedenfalls ist der Ort, wo fließendes, geschmeidiges Denken geübt wird, jenseits aller „Lektionen“. Will Gmehling

Durs Grünbein: „Schädelbasislektion“, Suhrkamp 1991, 25 Mark. Für dieses Buch wird dem Dichter am kommenden Dienstag von der Rudolf-Alexander-Schröder-Stiftung der Bremer Förderpreis für Literatur verliehen.