Nachgefragt: "Man muß Kasachisch lernen"

Vera Kuznecova (26) ist Journalistin bei der Moskauer Nesavisimaja Gaseta (Unabhängige Tageszeitung), der russischen Partnerzeitung der taz im World Media-Projekt. Sie ist Chefreporterin im russischen Parlament und beschäftigt sich vor allem mit den zwischennationalen Beziehungen in der ehemaligen Sowjetunion. Zur Zeit ist sie Gast bei der Forschungsstelle Osteuropa an der Bremer Uni.

taz: Der Westen hat den Zerfallsprozeß der Sowjetunion in den vergangenen Monaten mit großer Sorge beobachtet. Viele Kommentatoren und Regierungen hätten es auch weiterhin gerne mit einem Zentrum zu tun gehabt. Wie beurteilen Sie den Zerfall?

Vera Kuznecova: Ich verstehe sehr gut die Gewohnheiten, und ich verstehe sehr gut, daß es bequemer ist, mit einem Zentrum zu verhandeln. Aber das Einfache ist nicht immer das Mögliche und das Bessere. Den Zerfall der UdSSR konnte man wie alle natürlichen Prozesse nicht mehr aufhalten.

Erwarten Sie, daß die neu entstandenen Staaten jetzt immer weiter auseinanderdriften? Gibt es eine Perspektive für die GUS?

GUS — gibt es die denn überhaupt? Die GUS ist nur ein Kreuz, das man über die UdSSR gemacht hat. GUS ist bestenfalls der Anfang eines Verhandlungsprozesses zwischen den Republiken. Jetzt ist die Rede davon, daß Rußland über den Einsatz der Atomraketen entscheidet — Rußland, nicht die GUS. Jelzin hat das Märchen erzählt, daß er sich zuerst mit der Ukraine, Weißrußland und Kasachstan abstimmen würde. Wie soll man sich das vorstellen? Atomraketen fliegen in Richtung GUS und Jelzin muß erst eine Versammlung einberufen?

Die GUS existiert also nur als Idee. Gibt es eine Perspektive für die GUS oder muß man sich auf wenig verbundene Einzelstaaten einrichten?

Dabei gibt es ein Problem. Was möchte der Westen dabei? Der Westen sagt GUS und er sagt es so, als sehe er die UdSSR dabei. Aber hinter der GUS ist überhaupt nichts als das einzelne Rußland, die einzelne Ukraine usw. Meiner Meinung nach beginnt der Westen, das zu erkennen. Kasachstan wird in die UNO, Rußland in den IWF aufgenommen. Langsam versteht der Westen, daß man die ehemaligen Republiken als eigenständige Staaten behandeln muß. Auf dem Gebiet der UdSSR entsteht langsam ein Geflecht aus bilateralen Beziehungen, und mit dem Westen wird es ganz ganauso sein. Ich weiß, das ist eine komplizierte Situation. Vielleicht muß man Kasachisch lernen. So ist die Situation.

Ich wünsche mir, daß die GUS als Verhandlungsprozeß Perspektive hat. In erster Linie muß dieser Prozeß über die Armee gehen. Auch wenn die Ökonomie zusammenbricht, die Armee ist ein riesiger Unsicherheitsfaktor. Man darf nicht mit einem Menschen spielen, der ein Gewehr in der Hand hat. Entweder es wird eine Verteidigungsunion geschlossen, oder es gibt eine Situation wie zwischen Armenien und Aserbeidschan. Das wäre fürchterlich.

Fragen: Jochen Grabler, Übersetzung: Kerstin Bast

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