Scheibengericht: Lou Reed/Johnny Adams/Barbara Manning/The Barley Works/Ricky Barnes & the Hootowls/Chris Stamey

LOU REED

Magic and Loss

(Sire/WEA)

Das dritte Album in vier Jahren. Lou Reed ist so produktiv wie selten zuvor. Es muß am Alter liegen. Nach all den Verwandlungen der siebziger und achtziger Jahre, nach flauen Zeiten, wilden Jahren und spätem Ruhm will er jetzt, mit 47, wieder sein, was er ganz zu Anfang sein wollte: Schriftsteller. Ohne Lidschatten, Leder und all das. Im März erscheint bei Penguin eine Sammlung seiner Gedichte. Titel: Between Thought and Expression. Ein Interview mit Václav Havel, heißt es, sei auch dabei.

„You can't be Shakespeare, and you can't be Joyce“, singt der ehemalige Student der Philosophie und Literatur auf dem Titelstück der neuen Platte, aber in Interviews (die im Vorfeld reichlich erschienen sind) vergleicht Reed sich in aller Bescheidenheit mit Dostojewski. „Ich möchte Kunst machen, die die Zeiten überdauern wird, ob auf Platte oder auf der gedruckten Seite.“ Befremdliche Worte vom ehemaligen Kopf einer Band, die im Kontext einer Antikunst-Bewegung berühmt wurde. Uncool. Noch befremdlicher fast die Sorgfalt, mit der der ehemalige Transformer (die New Yorker Variante von „Turn on, tune in, drop out“) heute seine Produktionen einspielt. Zwar immer noch fast nur mit Fender und Stimme, aber mit der totalen Kontrolle über das klangliche Ergebnis. Ein hartes Stück Arbeit, wie er glaubhaft versichert. Wer hätte je gedacht, daß ausgerechnet ein Mann wie Reed sich einmal zum Sound-Perfektionisten entwickeln würde, der öffentlich den Dilettantismus seiner frühen Produktionen bedauert? Ein Kandidat für die Ewigkeit, nicht unser Mann im Heute? Hat dafür Andy Warhol seine Bilder gemacht, seine Filme gedreht?

An der Karriere von Lou Reed läßt sich aufs anschaulichste studieren, wie sehr der spätdadaistische Ansturm der sechziger Jahre auch eine Bewegung zur Rettung der Kunst war: Rimbaud und Baudelaire als geheime Gegengötter im Kampf gegen die Saturiertheit des amerikanischen Durchschnitts. Heute, wo alle Bastionen erstürmt und die USA ohnehin auf dem absteigenden Ast sind, kommt mehr und mehr die wertkonservative Seite zum Vorschein. Zen oder die Kunst, einen Song zu fügen. Handwerker-Individualismus. Renegatentum. Reed will runter vom Zug der Zeit, ähnlich wie Neil Young baut er nur noch seinen Sound aus, zäh, beharrlich, ein wenig puristisch und vor allem voller Mißtrauen vor falschen Freunden. Zum Kristallisationspunkt seiner literarischen Phantasien wird der Tod verehrter Vorbilder. Bei Songs for Drella war es die Überikone Warhol, an der er sich abarbeitete, auf Magic and Loss setzt er — neben einer nachnamenlos bleibenden Rita — Doc Pomus, dem im letzten Jahr an Krebs gestorbenen Rhythm'n' Blues-Songwriter ein Denkmal: „Between two aprils I lost two friends / Between two aprils magic and loss.“

Das klingt pathetisch — und ist es auch. Lou Reed 1992, das sind 14 kurze Stücke übers Sterben, 14 nahezu klassische Stories, in denen der selbsternannte Dichter zur spärlichen Gitarrenbegleitung mit dem Schicksal hadert. Leda und der Schwan, das Schwert des Damokles, Eros und Thanathos, Kriegsgott und Aschehäuflein — kein überlieferter Topos des heroischen, aber vergeblichen Kampfs gegen die Vergänglichkeit wird ausgelassen. „What's good? Life's good — but not fair at all“, geht eine Zeile aus dem Eröffnungsstück, und in Sword of Damocles heißt es: „This guessing game has it's own rules, and the good don't always win.“

Allgemein gesprochen, Mann. Ganz frei von nickelbrillenphilosophischen, Wim-Wenders-haften Anflügen sind Reeds Betrachtungen nicht (What's good war ja auch Teil des Soundtracks von Bis ans Ende der Welt). Trotzdem vermag die Traurigkeit seines brüchigen, leicht altherrenhaften Sprechgesangs in ihrer selbstgewählten schwelgerischen Antiquiertheit ebenso zu rühren wie, sagen wir, das Pop-Op-Kleid von Brigitte Bardot; oder die Silberhaarperücke Warhol/Drellas; oder auch der Mittelscheitel von Peter Handke. Das ist es also, was geblieben ist, sagt man sich, und so sieht es heute aus.

Und indem man das weiß, ist es plötzlich schon wieder ein bißchen mehr geworden. Daß der ursprüngliche Funke der sechziger Jahre im literarischen Kosmos des Lou Reed noch nicht vollkommen erloschen ist, zeigt Power and Glory, ein Song, den der Übersetzer der deutschen Textbeilage (zu Recht) nicht mit „Macht und Ruhm“, sondern gut christlich mit „Die Kraft und die Herrlichkeit“ übersetzt hat. „I wanted all of it, not some of it“, heißt es dort.

JOHNNY ADAMS

sings Doc Pomus/The Real Me

(Zensor/EFA)

Eine weniger spektakuläre Art, an Doc Pomus zu erinnern, hat Johnny Adams gewählt: er singt einfach dessen Lieder nach. Wo Reed sich selbst ins Spiel bringt, wird Adams ganz Stimme; wo Reed die europäische Literaturtradition heraufbeschwört, lebt Adams' Interpretation von einem Gospel-Background, dem individualistisches Kunstwollen eher fremd ist. Was zählt, ist das gelungene Einfühlen in die Vorlage, die Aktualisierung des (Rhythm'n')Blues-Spirit eines Stücks: The Song, not The Singer; und auch nur in zweiter Linie The Writer.

Als Epitaph für einen Verstorbenen ist The Real Me denn auch erstaunlich entspannt geraten. Die Coverrückseite zeigt eine leichenschmausartige Zusammenkunft grinsender, selbst schon ziemlich betagter Männer — durchweg New- Orleans-Prominenz, die, obwohl größtenteils weiß, ein perfektes Backing für Adams' R'n'B-Stimme aus dem Ärmel schüttelt. Die Atmosphäre einer Jam Session herrscht vor, mit zurückhaltenden, aber akzentuierten Gitarren, Boogie-Passagen und einer Horn Section, die teilweise recht frei mit den Einsätzen umgeht. Auf technische Brillanz ist es den Beteiligten bei aller Virtuosität offenbar nicht angekommen. Statt dessen feiert man den Gedanken einer musikalischen Neighbourhood, wie er sich (als Mischung aus schwarzer „Community“ und weißem Laissez-faire) in der südlichen Clubkultur erhalten hat.

Ob es dem dicken Pomus so gefallen hätte, scheint dabei keinen so recht zu kümmern, aber wahrscheinlich hätte es. Schließlich hat er als Weißer nicht nur den unverbrüchlichen Bestand schwarzer Rhythm'n'Blues-Klassiker um einige Perlen bereichert; auf The Real Me scheint er sogar in Gestalt des mittlerweile kaum weniger dicken Mac Rebennack (alias Dr. John) wiedergekehrt zu sein. Der hat sich in den Produzentensessel gezwängt und dabei, wie aus Versehen, den einen oder anderen Pianoakkord fallenlassen. Nicht der schlechteste Beitrag zu dieser Hommage.

BARBARA MANNING

One Perfect Green Blanket

(Heyday/Normal)

Schade, daß dem Kind gleich wieder ein Name verpaßt werden mußte: Softcore. In Anspielung auf und Abgrenzung zu Hardcore. Na ja. Richtig daran ist allenfalls die dahinterstehende Erkenntnis, daß das einzelne als einzelnes in der Regel keine Chance hat, wahrgenommen zu werden. Erst der Trend macht die Musik, und wo er ausbleibt, wird notfalls auch ein wenig gewaltsam ein Paketchen zusammengeschnürt.

Doch immerhin: „Softcore“ kommt aus dem Bedürfnis nach entstaubter, aktueller Folk-Musik, und solange dann und wann ein Album wie One perfect green blanket von Barbara Manning darunter ist, will man sich jedes Etikett gefallen lassen. Die Mitgründerin des kalifornischen Heyday-Labels macht tagebuchartige kleine Songs, die ländlich vereinsamte Sinnsucher ebenso ansprechen dürften wie die großstädtische, graffitimüde und trotzdem unzufriedene U-Bahn-Jugend. Folk with Attitude. Er scheißt lyrisch auf die Massenekstase im Groove-Tempel und ist statt dessen lieber auch mal traurig. Jeder Ton behauptet nicht ohne Trotz das Recht darauf. Ein Stück heißt bezeichnenderweise Lock Yer Room, ein anderes denkt laut über die Beziehung von Mark E. Smith und Brix nach (die bekanntlich ungut endete).

So richtig neu ist bei genauem Hinhören natürlich doch wieder wenig an dieser Intimitätsvariante. Green erinnert ein wenig an Blue von Joni Mitchell, Someone wants you dead ziemlich stark an Velvet Underground, aber was sagt das schon? Um nicht in falsche Vergleiche und haltlose Schwärmerei zu verfallen, möchte man am liebsten ganz naiv werden und so einfache Dinge sagen wie: Diese Platte ist sehr schön. Es sind lauter schöne Lieder drauf, 18 Stück (darunter als Bonus das komplette erste Album Lately I keep scissors). Ich mag sie alle, eins mehr als das andere usw. Helge Schneider würde es vielleicht noch mal anders ausgedrückt haben. Etwa so: Diese Platte ist nicht nur ausgezeichnet, sie ist sogar sehr gut.

THE BARELY WORKS

Don't Mind Walking

(Cooking Vinyl)

Leisere Töne schlagen auch The Barely Works aus England an. Mit ihrer Idee, eine Tuba als Baß einzusetzen, ihrem unerschrockenen Umgang mit traditionellen Stilen und einem Outfit, das von Stephen Frears hätte entworfen sein können, waren sie 1991 auf dem besten Wege, die britischen Négresses Vertes zu werden. Auf Don't Mind Walking treiben sie das Multikulti- Ding allerdings so bunt, daß es schon wieder grau zu werden droht. Ska-Rhythmen, Rumba-Einlagen, Jigs, Fiddle-Begleitung und Funk- Anflüge vermischen sich mit allerhand Alpenländischem (Hackbrett!) zu einem universalen Gegniedel. Spiel ohne Grenzen. Müssen aufpassen, daß sie nicht zur Gimmick-Band verkommen.

HANK McCOY & THE DEAD RINGERS

Still feeling blue/Lately my luck has been changing

(OKra/Normal)

RICKY BARNES & THE HOOTOWLS

Ya' finally said something good

(OKra/Normal)

Als im letzten Herbst mit dem Erscheinen des OKra-Labelsamplers allerorts die bevorstehende Rückkehr des sensiblen Folksongs gefeiert wurde, fielen zwei der darauf vertretenen Gruppen regelmäßig unter den Tisch: Hank McCoy & The Dead Ringers und Ricky Barnes & The Hootowls, beides Country-Bands.

Ein Zufall ist das nicht. Während Folk hierzulande stets bereitwillig in die Strategien antizyklischer jugendlicher Renitenz eingebaut wurde, gilt Country immer noch als Inbegriff von Stupidität, Redneck- Ideologie und volkstümlichem Humptata. Aber was für ein Irrtum! Gibt es doch in Wahrheit kaum ein Genre, in das sich verschraubte, monströse und sonstwie sperrig raumgreifende Gefühle auf so wunderbare Weise hineinverstecken lassen wie in in dieses. Bob Dylan wußte das, als er Nashville Skyline aufnahm, ebenso Elvis Costello, der mit Almost Blue eine der schönsten Country-Hommage-LPs gemacht hat. Von letzterem stammt auch die Theorie, Country-Musik sei der Soul des weißen Mannes, aber das stimmt nur zur Hälfte. Der Sex fehlt. Country in der Tradition von Hank Williams (und davon sprechen wir hier) ist trotz einfachsten Aufbaus, trotz extrovertierter Oberfläche mit Fiddeln, Schusterterzen und Tanzbein-Rhythmen im Grunde kontemplative Musik. Es wird gegrübelt, bis der Kopf auf die Tischplatte fällt. Nicht selten ist Alkohol im Spiel.

Country solcher Art macht Hank McCoy mit seinen Dead Ringers. „I've been losing all my life, I'm a ga-hambler“, schluchzt er auf einem der beiden Titelstücke, und wer die Plattenhülle gesehen hat, der möchte ihm das nur allzugerne abkaufen. An diesem abgezehrten Koteletten-Face hat McCoy mindestens ebenso lange gearbeitet wie an seinem herzerweichenden, an großen Vorbildern geschulten Gesangsstil. Schließlich scheitert man nicht in drei Tagen. Die meisten brauchen ein ganzes Leben dazu.

Was Wunder, daß der Mann vor allem in der Ballade unschlagbar ist. Gram Parsons, George Jones und Johnny Horton werden aufs einfühlsamste gecovert, die Großzahl der Eigenkompositionen kreist um die Themen Schmerz, Verlust und Eifersucht. Aber auch sonst hat Still feeling blue/Lately my luck... (24 Stücke! Das hierzulande nie erschienene erste Album ist auch hier noch mal mit drauf auf der CD) keinen einzigen Durchhänger. Auswahl der Songs, Eigenkompositionen, Darbietung, Arrangements — alles atmet demütige Virtuosität und sublimen, aber ansteckenden Masochismus. Warnung! Vor allem Roger Millers Invitation to the Blues, auf dem die weibliche Stimme der Band, Kristi Jendry, zum Einsatz kommt, kann bei ungefestigten Gemütern zum sofortigen Weinkrampf führen.

Die Ringers verhalten sich zur Country-Tradition wie die Cramps zu der des Rock 'n' Roll, nein, was sag' ich: noch puristischer. Viel zuviel Respekt haben sie vor den bewunderten Originalen, um einfach mutwillig einen Akkord auszulassen. Darin treffen sie sich mit Ricky Barnes & The Hootowls, mit denen sie offenbar inzestuös verbunden sind. Beide Bands kommen aus Columbus/Ohio, beide verfügen über exzellente Musiker, beide tauschen Bandmitglieder frei untereinander aus.

Obwohl sich Songs wie Brand new Heartache oder Lonely Blue Boy in ihrem Repertoire befinden, sind die Hootowls aber doch wohl der fröhlichere Teil der Sippschaft. Hier wird wenigstens ab und zu mal auf den Boden gestampft, und ein Hauch von Jamboree-Feeling scheucht die schwarzen Gedanken kurzfristig in die Ecke. Barnes ist offenbar auch körperlich eine etwas stabilere Figur. Aus seinem Gesang strömt die Sehnsucht nach einem auf der Veranda verbrachten Leben, das abends nahtlos in ungezwungene Treffen mit Verwandten, Freunden und Tammy, dem Mädchen vom Hausboot, übergeht, bis alles flachliegt. Daß da auch Melancholiker dabei sind, kennt man zum Teil von sich selbst, zum Teil nimmt man es eben als Schicksal hin: The Family that plays together, stays together.

CHRIS STAMEY

Fireworks

(Intercord/IRS)

Seine 91er LP mit Peter Holsapple (wir berichteten) gehört zu den klar unterbewerteten Platten des Jahrgangs, der Vorgänger It's alright landete sogar in der Ramschkiste der Ladenketten. Um so toller, daß Chris Stamey schon wieder mit einer Platte vorgeprescht kommt. Offenbar hat der Mann aus Hoboken sich damit abgefunden, ewig at the wrong time at the wrong place zu sein.

Kann auch ein Vorteil sein. Das Abseits als sicherer Ort. Fireworks ist anzumerken, daß es ohne größeres Marktkalkül ins Rennen geht. Anything goes, aber nur, weil Stamey es so will. Zarte Zerbrechlichkeiten von Songs stehen neben robusten Riffrockern wie On the Radio, einer Art Sozialisationsbericht durch Medien: Am Anfang war das Radio, dann die Plattensammlung, dann die Band. Stamey ist kein Genie, sondern ein sehr geschmackvoller Eklektizist, der die Poesie der letzten dreißig Jahre Songwriting in sich vereint. Wo andere belesen sind, ist er behört. Und er macht was draus. Musik, die in mir regelmäßig den Wunsch weckt, einmal nach Hoboken zu kommen. Einfach um zu sehen, ob die Stadt so ist, wie der Name klingt (natürlich nicht).