Es fehlen visionäre Ideen, die die Bevölkerung beflügeln

■ Ein Jahr Große Koalition: Ein Interview mit dem Historiker Arnulf Baring (Freie Universität) über die Ideenlosigkeit der Berliner Politik

taz: Als die Berliner Senatskoalition aus CDU und SPD gebildet wurde, wurde das auch damit begründet, Große Koalitionen seien besser geeignet, große Probleme zu lösen. Kann der Historiker Arnulf Baring diese Diagnose bestätigen?

Arnulf Baring: Pauschalurteile sind immer schwierig zu fällen. Kleine Koalitionen arbeiten oft effektiver, weil der Zwang zur Disziplin größer ist. Die breite Mehrheit, über die Große Koalitionen verfügen, verführt leicht dazu, interne Streitigkeiten zu beginnen...

...wie die CDU-interne Kritik an Eberhard Diepgen als dem »blassen Eberhard« gezeigt hat.

Daß ein Regierender Bürgermeister oder ein Kanzler einer Großen Koalition einen blassen Eindruck macht, weil er natürlich nicht der Herr aller Reußen ist, das ist ja klar. Schon die Große Koalition in Bonn 1966 bis 1969 war immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, sie tue zu wenig. Kiesinger galt als der »blasse Kanzler«.

Den Vorwurf gegen die Große Koalition in Bonn finde ich falsch. Diese Regierung war meiner Meinung nach eine der erfolgreichsten, die wir in der Bundesrepublik Deutschland hatten, erfolgreicher auch als die sozialliberale Koalition, die darauf folgte. Die Sozialdemokraten wollten in der Großen Koalition beweisen, daß sie genauso gut regieren könnten wie die anderen auch. Und warum haben sie es bewiesen? Weil sie ganz hervorragende Leute hatten. Wenn es um den Berliner Senat geht: fleißig ist er. Ein Senator sagte mir kürzlich, 70 Prozent seiner Energie und des gesamten Senates gehe in den Versuch, aus Ost-Berlin irgendwas zu machen, womit man agieren könnte.

Aber das beschäftigt die Bevölkerung nur bedingt. Wir sagen den Bonnern vorwurfsvoll, sie seien nicht auf der Höhe der Zeit, sie hätten nicht begriffen, daß das Land in einer ganz neuen Situation sei, nach außen wie im Inneren, und daß die neue Lage eine große intellektuelle, auch konzeptionelle Anstrengung erfordere. Die gleiche Kleinkariertheit haben wir aber auch in Berlin. Die machen mit Routine das, was sie immer gemacht haben.

Nun sind die Senatsverwaltungen ja auch genau dieselben, die schon 40 Jahre lang West-Berlin verwaltet haben.

Die Verwaltung spielt doch keine entscheidende Rolle. Die ist sehr entscheidend bei der Umsetzung. Woran es aber fehlt, das sind die Vorgaben, die visionären Ideen, die die Bevölkerung beflügeln und zum Mitdenken anregen können. Diese Große Koalition in Berlin ist ja durchaus nicht schlechter als ihre Westberliner Vorgängerregierungen. Aber das reicht heute eben einfach nicht mehr aus. Warum greift zum Beispiel bisher keine Partei beherzt die Idee auf, das Stadtschloß wiederaufzubauen? Dann hätte man sofort eine Diskussion über die Frage, ob unser Stadtzentrum wie Manhattan oder Chicago aussehen soll — oder ob wir das Modell Warschau wählen, also die Rekonstruktion der alten Innenstadt. Diese Alternativen könnte der Senat den Berlinern doch vorlegen. Sind das ICC oder die neue Staatsbibliothek wirklich mehr Elemente unseres Berlin- Bildes als das Stadtschloß oder der Reichstag? Das wissen wir bisher nicht, aber davon hängt eine ganze Menge ab für die Frage, wie unsere Hauptstadt aussehen soll. Das ist eine Frage, die nicht nur die Berliner, sondern alle Deutschen interessieren sollte. Es ist im Grunde obrigkeitsstaatlich gedacht, wenn da nur Kommissionen des Bundes und des Landes Berlin eingerichtet werden.

Wenn eine Partei das Thema Stadtschloß aufgreift, schallt ihr doch sofort der Vorwurf entgegen, sie kümmere sich um Nebensächlichkeiten.

Das würde ein Diskussionspunkt sein. Aber alle Beteiligten wären sich auch klar, daß die Entscheidung, um die es da geht, keine Entscheidung von heute oder morgen ist. Diskussionen kosten bekanntlich kein Geld. Gerade wenn man meint, wir hätten im Augenblick dringendere Sorgen, finde ich Planungsfragen ganz ideal, um die Phantasie der Menschen anzuregen, um ihren Bürgersinn zu testen. Ich persönlich glaube, daß die Sozialdemokratie schief gewickelt ist, wenn sie glaubt, die Leute interessierten sich nur für Wohnungsfragen oder Sozialpolitik.

Ist das ein typisches Merkmal Großer Koalitionen, daß sie sich von den Bürgern eher zurückziehen, sich in internen Klüngeln erschöpfen?

Ich glaube eher, es liegt an der Zusammensetzung dieses Senats. Der besteht — genauso wie das politische Personal der Bundesrepublik — im wesentlichen aus Leuten, die das parlamentarische Handwerk als das Geschäft der Verteilung von Sozialchancen begreifen. Die Stadt ist in den letzten Jahrzehnten materiell und personell verarmt. Aus der Stadt, aus unseren Parteien, kann nicht das Personal kommen, das notwendig ist, um hier eine Hauptstadt für ganz Deutschland zu planen. Das ist ein ganz offenkundiger Mangel.

Ist nicht auch die Debatte über das Lenin-Denkmal ein Beweis dafür, daß es für symbolische Debatten durchaus ein großes Interesse gibt?

Ja, das finde ich auch. Ich habe zum Beispiel große Schwierigkeiten mit dem Berliner Landeskonservator. Der will auch ausgemacht scheußliche und ästhetisch minderwertige Architektur erhalten. Mit dem Vorschlag, das Außenministerium, das Staatsratsgebäude und den Palast der Republik als angebliches »sozialistisches Ensemble« zu erhalten, hat sich dieser Mann als urteilsunfähig erwiesen. Dieser Gedanke ist eine Provokation, die in intakten Demokratien den Landeskonservator sein Amt kosten würde. Dann muß man sich doch fragen, warum wir die Hitler-Denkmäler oder die Hakenkreuze beseitigt haben. Das waren auch Zeugnisse der Zeit. Ich glaube nicht, daß man alle Bauten der Vergangenheit beseitigen soll, die von Diktaturen hinterlassen wurden. Aber die Diskussion ist zu grobschlächtig und findet zu sehr hinter verschlossenen Türen statt.

Vertreten Sie nicht selbst ein sehr hierarchisches Gesellschaftsmodell, wenn Sie von der Regierung verlangen, Leitideen vorzugeben? Kann das die Gesellschaft nicht selbst?

Meinungsführung und Demokratie sind keine Gegensätze, sondern bedingen sich. Es ist nicht autoritär, für das Zentrum von Berlin etwa drei verschiedene Vorschläge zu machen. Politische Parteien haben die Aufgabe, Meinungen zu bündeln. Ich finde, daß die Parteien zum Teil gar nicht genug auf das hören, was in der Bevölkerung diskutiert wird. Sie wirken sehr wie geschlossene Gesellschaften, kastenartig. Ich habe den Vertretern beider großer Parteien gesagt: Täuschen Sie sich nicht. Sie sind nicht wegen, sondern trotz Ihres Personals gewählt worden. Es gibt ja kaum noch jemand in der Politik, der mit der Breite irgendeines Lebensbereiches in Kontakt kommt. Das birgt die Gefahr, daß Politik sich einkapselt. In Berlin hatten wir jetzt zweimal nacheinander sehr überraschende Wahlergebnisse. Die waren das Ergebnis von Unterströmungen, die von der Politik gar nicht wahrgenommen worden waren. Mit dieser neuen Situation kann man nicht dadurch fertig werden, daß man überlieferte Formeln vor sich herbetet. Und deshalb kommt es nicht auf die Größe der Abstimmungsmehrheit im Parlament an, sondern darauf, ob man zeitgerechte Ideen entwickelt. Daran fehlt es. Und daran sieht man, daß unsere Parteien alt geworden sind. Interview: Hans-Martin Tillack