Synthetische Impression

■ Annette Begerow zeigt in der Shin Shin Galerie neue Arbeiten

Der Blick durch ein Mikroskop eröffnet einen Kosmos, der real sichtbar und durch seine technische Vergrößerung zugleich Abstraktion ist. Das druckgraphische Verfahren, um Plakate für Litfaßsäulen zu erstellen, führt zum gegenteiligen Effekt der ambivalenten Wahrnehmung. Bei Nahsicht lösen sich die fröhlichen Menschen und knalligen Farben in ein nüchternes Farbraster auf. Dieses graphische Druckprinzip hat Annette Begerow als Möglichkeit abstrakter Kunst nutzbar gemacht.

In der Shin Shin Galerie sind Siebdrucke direkt auf die Wand aufgetragen. Bilder, die nicht auf eine abbildhafte Bedeutung rückführbar sind, sondern abstrakte Strukturen und die farbliche Wirkung von Druckrastern sichtbar machen. Das Prinzip basiert auf der Addition von drei Farben: ein helles Grünblau, Gelb und ein helles, leuchtendes Rot. Das Übereinanderdrucken der transparenten Farbschichten erweitert das Farbrepertoire mit einem dunklen Grün, einem tiefen Blau und einem kräftigen Blutrot.

Annette Begerow hat das hell leuchtende Rot bewußt um einige Millimeter verschoben; der Fehldruck ist beabsichtigt. Dieses Vorgehen läßt das Bild unscharf wirken und irritiert die gewohnte Wahrnehmung von bunten Hochglanzbildern. Es entsteht ein Flimmern und der Eindruck, als würde sich das Bild bewegen. Die eigenwillige Farbwirkung und die Vergröberung des Musters führen zu einem verschwommenen Oszillieren. An manchen Stellen der leicht unebenen Wand werden die Farben nicht übereinandergedruckt und bleiben als Ausgangsfarbe sichtbar.

Die Farben und organischen Strukturen streuen und konzentrieren sich — wie das Standbild einer Mikroskopaufnahme — im Blow-up an der Wand. Die Tropfen und Flächen erinnern an Amöben, die sich, von einer Farbmembran umschlossen, in der flüssigen Substanz eines Präparates tummeln. Verschwommene Flecken und vereinzelte Punkte wechseln ab mit Verdichtungen der Farbzellen. Die Farbflecken verzichten auf ein erkennbares System der Ordnung. Die Zwischenräume der weiß belassenen Wand gewinnen an Bedeutung, ohne zugleich Muster und Ornament zu sein.

Auch die einzelnen Farbakzente stehen weder in notwendiger Relation, noch sind die Farbakzente in harmonischer Balance zueinander gestellt. Das Bild läßt sich als Ganzheit und Zustand kaum visuell fassen, die Geschwindigkeit und Zeitdauer der Wahrnehmung entzieht sich der Orientierung.

Annette Begerow operiert in dieser Ausstellung mit der Bildvorstellung traditioneller abstrakter Malerei, ohne sich ihrer Mittel zu bedienen. Die Wand als Bildträger substituiert die Leinwand, die Pinselgeste ist durch das Druckverfahren ersetzt. Der Pointilismus in Printmedien-Manier führt zu synthetischen Impressionen. Die Blenden und Überblendungen lassen den Eindruck des Bildes entstehen, während die Flimmerstruktur durchgängiges Motiv der Siebdrucke ist.

Hofften die impressionistischen Entdecker des 19. Jahrhunderts, daß sich die Farben im Auge mischten, hat Annette Begerow diese Zuversicht verloren. Das technische Verfahren zerlegt das Bild in seine Bestandteile. Dieses Druckverfahren mit »programmiertem Fehler« steht damit in logischer Konsequenz zur Selbstauflösung abstrakter Malerei. Allein die formatbegrenzte Fläche von 193*193 cm fungiert als visueller Angel- bzw. Bilderhaken.

Die Impression des Bildes ist durch seine Begrenzung und die Wirkung auf den Galerieraum bestimmt. Das scheinbare Fließen der Farben erinnert an die Disco-Effekte der Gründerjahre, als Tinte und andere Farbmaterialien, in einen Dia-Rahmen getropft, mit Hilfe des Projektors den Raum ausleuchteten. Der Galerieraum schafft das Bezugssystem zur Entstehung und Wirkung des Bildes. In diesem Kontext flackern und vibrieren die einzelnen Farbflächen.

Die Raumbezogenheit nicht nur dieser Kunst macht eine Präsentation im öffentlichen Raum unabdingbar. Daß der Shin Shin Galerie und zwanzig Atelierplätzen auf der gleichen Etage zum Ende dieses Jahres die Mietverträge gekündigt wurden, ist ein weiterer Skandal in unserer Stadt. Herbert Jochmann

Bis 7.2., Shin Shin Galerie, Waldenser Str. 2-4, Berlin 21 (Moabit), Do., Fr., Sa., 15-18 Uhr