Halbe Stunde Apokalypse pur

„Fünf vor 12“, Petra Kellys Umweltreportage auf Sat.1, heute um 22.55Uhr  ■ Von Caroline Schmidt-Gross

Es ist 5 vor 23 Uhr. Die Kamera zoomt auf riesige Glubschaugen und eine zu Brei verformte, das ganze Gesichtchen ausfüllende Nase. Sie gehören einem mißgebildeten Baby, geboren und gestorben in Lettland. Wer jetzt noch nicht aus tiefer Betroffenheit mittels Fernbedienung geflüchtet ist, liefert sich schonungslos der „derartig starken visuellen Dramatik“ (O-Ton-Pressetext) der Sat.1-Umweltreportage aus. Eine halbe Stunde Apokalypse pur, untermalt mit klassischen Klängen. An den tödlichen Tumoren von Nikolai, Tatjana und Andre in der Baltenrepublik sind Radaranlagen der Roten Armee, Milch, deren Haltbarkeit durch die Vermengung mit Waschmitteln verlängert wird, oder Formaldehyd- Emissionen der Chemiekombinate schuld, erklärt die Kinderärztin aus Riga, Dr. Inguna Ebele. Gewußt haben das alle, nur erst jetzt erlaubt die politische Lage ihrer Bürgerinitiative „Rettet die Kinder“, die Folgen der jahrelangen Umweltverseuchung anzuprangern. Soweit zur Einstimmung für heute abend.

Nun zur Überraschung. Mit dieser Umweltreportage hatten ursprünglich weder Sat.1 noch Petra Kelly etwas zu tun. Denn das Schwerpunktmaterial des Films lieferte die Gruppe „Rettet die Kinder“ schon im letzten Jahr der Produktionsfirma TV-Spektrum in Bremen, gestand deren Produktionsleiter Claus-Dieter Clörs anläßlich der Presse-Preview. Tatsächlich ist die Reihe Fünf vor 12 eine Auftrags-, treffender: Angebotssendung, ebenso wie Talk im Turm, die von der AVE Gesellschaft für Fernsehproduktion mit Sitz in Berlin produziert wird. Doch hinter TV-Spektrum und AVE verbirgt sich ein Konzern: der des Medienmoguls Holtzbrinck — und Sat.1 ist der beste Kunde.

Zu tief sitzt das Image von „Dallerei“ und „Tittentanz“, ebenso wie die Einschaltquote. Dieses Manko soll nun die allabendliche „Informationsleiste“ beheben. Wie froh ist da Sat.1-Chefredakteur Rutz, daß er die „Politikerin aus Betroffenheit“ als Moderatorin gewinnen konnte. Das Katastrophen-Kaleidoskop scheint ihr wie auf den Leib geschneidert zu sein. Nur von ihren TV-Qualitäten war bei der Pressevorführung leider noch nichts zu sehen. Die Produktionszeit sei dafür zu knapp gewesen, wurde abgekanzelt.

Von der „Alternativen Nobelpreisträgerin“ zur Ansagerin, warum? Sie will aufrütteln, motivieren und zum Handeln anregen, blockte Kelly ab, und optimistisch sprudelte es aus ihr heraus, daß sie auch Themenvorschläge machen dürfe. Vielmehr scheint die Grünen- Politikerin aber nur als Zugpferd engagiert worden zu sein, weil sie die nötige „street credibility“ (Fachjargon) besitzt. Im Klartext, egal, was kommt, ihr glaubt jede/r aufs Wort.

Für die folgenden Umweltreportagen (ein Thema pro Sendung) hat TV-Spektrum für Fünf vor 12 kellenweise aus der Giftsuppe geschöpft: Mülltourismus, Tierversuche, Amalgam, Truppenübungsplätze und so weiter. Nur: Wo bleiben die aktuellen Themen wie beispielsweise die Leukämieerkrankungen im Umkreis von Krümmel? Welche ZuschauerInnen fegt es angesichts des allgemein geballten, bunten Bilderelends zu so später Stunde noch aus dem Sessel? Das kann aber weder „Moderatorin“ noch Chefredakteur erschüttern. „Wer sich engagiert, schaut auch noch so spät fern“, so Kelly. Und wer sich eben gerade nicht engagiert? Damit wenigstens heute abend nicht das Entsetzen der Ohnmacht weicht, soll „das Spendenkonto der Initiative ,Rettet die Kinder‘ eingeblendet werden“, stiftete Rutz zu Taten an. Auch mit der Werbung wird „sensibel“ umgegangen: Sie soll lediglich um die Umweltreportage drum herum drapiert werden. Wir empfehlen zu dem heutigen Umweltmenü Hipp-Baby- Kost: „Chemie haben wir von den Feldern verbannt, Unkraut zupfen wir mit der Hand.“ Wohl bekomm's!