Das grüne Spielzeugkrokodil

■ Haußmann inszeniert Ibsens „Gespenster“ in München

Zinnoberrot das hohe Gartenzimmer, Boden, Wände, Decke. Der Zinnoberraum geht in den Wintergarten über, wird erst begrenzt durch die grasgrüne Wandscheibe zum Garten. Die großen Fenster darin, die den Blick freigeben auf eine düstere, von einem gleichmäßigen Regen verschleierte Fjordlandschaft, schauen ins Nichts. Ein kahler Baumstamm, er steht für den hohen Norden, Ikea und die Trostlosigkeit, ragt schief in den Himmel.

Die Standuhr schlägt impertinent immer ein wenig vor der Kirchenuhr, aufmüpfige Lektüre liegt offen herum, selbst aus dem Grammophon tönt es ketzerisch: Non, je ne regrette rien — Freigeist wabert wie ein Gespenst durch die großbürgerlichen Hallen der Kammerherrnwitwe Alving.

Henrik Ibsens Stück Gespenster in der Regie von Leander Haußmann am Münchner Residenztheater ist ein zähes Ringen um Erkenntnis, ein vorsichtiger, anfangs ganz zögerlicher Blick hinter fast perfekte Fassaden von bürgerlicher Pflichterfüllung und moralisierenden Idealvorstellungen. Doch die Werte, die wie ein Korsett das Scheingebilde zusammenhalten, Contenance — der Familie, der Ehre, der Selbstachtung wegen — können der Lügenlast, die darauf ruht, nicht länger standhalten.

„Verachten Sie die Ideale nicht!“ mahnt Pastor Manders die Jugendfreundin Helene Alving, als diese die Gesetze der Gesellschaft nicht mehr zu akzeptieren bereit ist: Vor 29 Jahren hatte sie ihm, dem Mittellosen, Alving vorgezogen. Der aber erwies sich bald als Tunichtgut, weswegen Helene Hilfe bei Manders suchte. Er schickte sie jedoch zurück, damit sie ihre Aufgaben als Ehefrau ordnungsgemäß erfülle. Manders ist mit sich zufrieden, Helenes Ehe artet zur Tortur aus.

Margit Carstensen als Helene, hoch und zerbrechlich, schwankt mehr als sie geht. Schwankt auch zwischen dem alten Freund und dem heimkehrenden Sohn. Ist es bei Manders mehr nur der Reiz, den schulmeisterlich-biederen Pastor (steif und herrlich altjüngferlich: Wolfgang Hinze) aus der Reserve zu locken und sein selbstzufriedenes Weltbild aus den Fugen geraten zu lassen, hofft sie in ihrem Sohn (präpubertär- punkig: Rufus Beck) den Ersatz für den Vater zu finden. Der gehört jetzt endlich ihr. Ihrem verstorbenen Gatten ein letztes Mal zu Ehren hat sie ein Asyl bauen lassen, das später abbrennen wird. Ihre Schuldigkeit ist getan, das Vaterbild, das sie gemäß dem Gebot „Du sollst den Vater ehren“ für den Sohn konstruiert hat, ist zementiert. Helene kann ein neues Leben beginnen.

Helene ist dennoch nicht Herrin der Lage, sondern nervös und verhuscht, bittet um Anerkennung und Liebe. Sie spricht leise, bald flüsternd, oft unverständlich, unterbricht, fällt ins Wort, trumpft auf, äfft nach, mal spöttisch oder hysterisch. Die Gespenster kann sie nicht vertreiben. Wie damals, als sie beobachten mußte, daß ihr Mann dem Hausmädchen nachstellt. Heute ist es ihr Sohn, der der Haustochter Regine, dem pummelig ungelenken Backfisch (Katja Amberger) zugetan ist — dem unehelichen Kind Alvings.

Der Zerfall des trügerischen Bildes dauert kaum einen halben Tag. Bei Haußmann jedoch scheint die Zeit zu stehen, so wie der Schlag der Uhr zwar die Zeit rhythmisiert, die Zeiger jedoch auf der Stelle bleiben. Fast zu erstarren drohen die Figuren manchesmal. Die Musik aus dem Hintergrund wird dann nicht lauter, sondern die Stille im Raum besser hörbar. Die Leere, die Schwere lähmt. Um so schriller, kantiger, ungeschickter scheint alle Bewegung, mit der sich die Figuren davon zu befreien suchen. Das grüne Spielzeugkrokodil, das Osvald auf dem Zinnoberboden kreisen läßt, ist in seinen Bahnen so gefangen wie die, die ihm gebannt zusehen. — Osvald weiß um seine tödliche Krankheit, die ihn irgendwann zum Pflegefall werden läßt. Rufus Beck mimt keineswegs den welterfahrenen Künstler, der sein Schicksal akzeptiert und sich zum Sterben zurückzieht. Osvald lehnt sich auf, um sich der Last der Erbkrankheit durch Kindsein zu entziehen. Die Mutter betrachtet liebevoll die Kapriolen ihres Sohnes, und Regine, die von der großen weiten Welt träumt, findet sein Verhalten einfach oberlässig. Der irre Typ ist für sie vor allem Sprungbrett, raus aus den Alvingschen Grabeshallen, weg von dem clownesken, ewig betrunkenen Tischler Engstrand, ihrem vermeintlichen Vater (Volker Spahr). Engstrand übernimmt eine Art Columbo-Rolle: Von allen unterschätzt, entlarvt er die Eitelkeiten, spielt mit den Figuren. Ein Alleinunterhalter.

Einlagen dieser Art hat Haußmann stundenlang aufzuweisen. Vom Einsatz des grünen Krokodils bis hin zum Absingen dämlicher Schlager ist ihm alles recht, selbstgedehnte Längen wettzumachen. Die Bewohner verlassen das Alvingsche Haus und sehen in den allgegenwärtigen Nebel hinaus, der sich wie eine undurchsichtige Hülle um das Haus und den Rest der Welt gelegt hat. Wie eine Mauer, die auch die Sonne, die Lebensfreude für immer ausschließt. Die Fassade ist zerbrochen, mitten ins Zinnoberzimmer ragt jetzt der Baumstamm. Ungehindert fällt der Blick auf die Ziegelwand im Bühnenhintergrund. Neuer Bewegungsraum hat sich für Mutter und Sohn aufgetan, sie stehen außerhalb der Konventionen. Die Giftflasche, die bei Ibsen der Sohn seiner Mutter gibt, damit sie ihn im Krankheitsfall erlöse, rollt bei Haußmann ins Nichts. Osvald wird immer kindischer. Mutter und Sohn tanzen den ödipalen Schieber, lösen sich voneinander, verlieren sich im Todestanz — Donovans Atlantis will nicht enden. Lilli Thurn und Taxis

Henrik Ibsen: Gespenster. Regie: Leander Haußmann. Bühne: Bert Neumann. Mit Margit Carstensen, Rufus Beck, Wolfgang Hinze, Volker Spahr, Katja Amberger. Münchner Residenztheater. Nächste Aufführungen: 4., 5., 9., 14. und 24.Februar.