Theater als rhetorische Anstalt

„Ein Jud aus Hechingen“ — das Landestheater Tübingen zelebriert ein „Requiem“ des Walter Jens  ■ Von Christian Gampert

Wenn Walter Jens in Tübingen eine Rede hält (sagen wir mal über Thomas Mann), dann ist der Saal gerammelt voll. Denn siehe, noch immer gibt es Menschenkinder, für die sind Thomas Mann oder Fontane einfach eine Nummer zu schwer. Die sitzen dann dem Meister zu Füßen und lauschen gebannt, was Jens bei Mann gelesen hat — Hausfrauen, Studienräte, Erstsemester. Der Mann-Leser erfährt selten Neues. Aber das soll auch gar nicht sein: Es geht hier um eine Art säkulare Bußübung, ein Sich-Versenken ins Tremolo des Besinnungsaufsatzes. Manchmal denkt Jens auch über Gott nach. Dann ist Hans Küng nicht fern, seit Jahren in Sünden lebender Theologe, Tübingens Säulenheiliger Nummer zwei. Gott, Mann, Welt, Ethos, das hat einen ganz eigenen Charme.

Walter Jens hat nun ein Hobby: er schreibt Theaterstücke. Das ist an sich nichts Verwerfliches. Jens könnte gewiß treffliche Räuberpistolen zusammenreimen über den Pen- Club oder die Akademie der Künste, welcher der Rastlose gerade vorzustehen beliebt. Er aber flieht die Unbill der Gegenwart und widmet sich Zeiten, in denen der Klassenkampf noch eine gewisse Überschaubarkeit hatte: Paul Levi heißt sein Held, Kampfgefährte und Geliebter der Rosa Luxemburg, Jude und Kommunist, später Sozialdemokrat, Jurist und als solcher maßgeblich am Prozeß um den Rechtsanwalt Korns beteiligt, der den Luxemburg-Mördern zu lachhaft niedrigen Strafen verholfen hatte. Das Stück spielt in jener letzten Nacht im Februar 1930, in der Levi, „ein Jud aus Hechingen“, sein Plädoyer gegen Jorns vorbereitet — und morgens in einem Anfall von Verzweiflung aus dem Fenster springt.

Das Wiederentdecken dieses vielfach gebrochenen Menschen, der den Parteikommunisten immer zu bürgerlich gebildet war und den die Rechten schon wegen seiner jüdischen Herkunft haßten, das Aufarbeiten dieser Biographie — das ist eine Leistung, zweifellos. Was bei Walter Jens aber langsam ärgerlich macht, ist die Geschäftigkeit, mit der er die schönsten Themen auftut und sie mit pathetisch vorgetragenen Banalitäten dann wieder zuschüttet.

Wir treffen Paul Levi (Ludwig Boettger) in einem perspektivisch auseinanderbrechenden Salon, den der Bühnenbildner Reinhard Dietmann ins Tübinger Landestheater gebaut hat. Ständig rennt Levi hektisch umher, stemmt die fiebernde Denkerstirn in die Hände und diktiert seiner Sekretärin Mathilde Jacob immer neue, immer brillantere rhetorische Wendungen ins Blöckchen — und uns beschleicht die dumpfe Ahnung, daß es im Hause Jens nächtens ganz ähnlich, ja sogar noch fiebriger zugehen mag. Ein Selbstporträt. Autor Jens läßt nun in Traumsequenzen eine ganze Reihe Weimarer Horrorpuppen aufmarschieren, von Jorns über die Liebknecht-Mörder Runge und Pabst bis hin zu tänzelnden George-Grosz-Gespenstern.

Deklamieren ist schöner als analysieren: Am schlimmsten ist davon die große Revolutionärin Rosa Luxemburg betroffen, die Jens zu einer reinen Lichtgestalt, zur großen Unbefleckten, zur Reliquie aufbaut. Der Links-Christ braucht das, in finsteren Zeiten wie diesen. Aber man tut der großen Rosa keinen Gefallen, wenn man den blumigen Kitsch, den sie bisweilen höchst privatim abgesondert hat, in einem Theaterstück kompiliert. Das mag zu ihrer Person gehört haben, auf dem Theater wirkt es lächerlich. Rosa und Levi, die Liebenden und Naturfreunde, philosophieren denn auch über „Stengel, leicht aufsteigend, zart behaart“ — Walter Jens, der große Erotiker, greift in die Botanisiertrommel.

Und trotzdem: Jensens dramatischer Aufsatz gewinnt im Lauf der Zeit in Tübingen an Fahrt. Das liegt daran, daß die (aus der Tabori- Schule kommende) Regisseurin Claudia Oberleitner nach einer stadttheatralisch verschreckten Anfangsphase sich zum Böse-Sein entschließt und den Levi-Gegenspieler Karl Radeck, den Vertreter der Kommunistischen Internationale, zu einem mephistophelischen Harlekin aufbläst. Der Bolschewik als Unterhaltungskünstler — Walter Jens wär da nie drauf gekommen. Aber genau so funktioniert Theater: Das Unerwartete genießt Sympathie, und die guten Menschen sind herzlich langweilig.

Es treten weiter auf: Levis Vater als patriarchalisch-religiöser Jude, Albert Einstein sowie Käthe Kollwitz (als Abgesandte der fortschrittlichen Frauen). Ein Requiem sei das Stück, heißt es im Untertitel; eine Gedenkveranstaltung ist die Aufführung. Das LTT hat darin nun schon Übung: auch Hans Sahls Rubinstein wurde hier im November uraufgeführt, ein Stück über den Richard- Wagner-Gehilfen und jüdischen Musiker Josef Rubinstein, der per Über- Assimilierung dem von ihm verehrten Antisemiten Wagner nahekommen möchte. Auch hier: ein tolles Thema, eine etwas altbackene, an Thornton Wilder geschulte Spielleiter-Dramaturgie. Das nimmt um so mehr wunder, als der heimgekehrte Exilant Sahl nicht nur ein großartiger Essayist, sondern auch ein hellsichtiger Theater-Kritiker und Übersetzer ist.

Walter Jens aber ist offenbar Vertreter einer neuen, alten Gattung: der Dramatiker als Weltenrichter, der Geschichte mit religiöser Inbrunst vor den Schranken des Theaters ins moralisch richtige Lot bringt. Jensens Darstellung der Rosa Luxemburg jedenfalls, auch sie gepeinigt, gedemütigt, der Kleider beziehungsweise Schuhe beraubt und ermordet, gerät in gefährliche Nähe zur Mystifikation, zur femininen Jesus-Parallele. Die Tübinger Schauspieler, besonders die Rosa der Brigitte Walter, spielten bewunderungswürdig gegen den Text an, und Harry Nehring machte aus dem Karl Radek eine sympathische Kader-Charge. Als Walter Jens zum Schlußapplaus auf die Bühne kam, war wieder alles in Butter: Da war er wieder der nette, ein bißchen skurrile Professor, der selber eine viel bessere Theaterfigur ist, als er sie selbst jemals erfinden könnte.

Walter Jens: Ein Jud aus Hechingen. Landestheater Tübingen. Inszenierung: Claudia Oberleitner, Bühne: Reinhard Dietmann. Mit Ludwig Brettger, Brigitte Walter, Harry Nehring, Nicole Marischka u.a. Nächste Vorstellungen: 31.Januar, 1., 8., 13., 14. und 26.Februar.