Die Logik des Abzählreims

Wahrscheinliche Welturaufführung einer kleinen Moritat über den stalinistischen Terror: Alexandr Wedenskijs „Weihnachten bei Iwanows“ am Thalia Theater in Hamburg  ■ Von Niklaus Hablützel

Er starb am 20.Dezember 1941, so steht es zumindest in einer Urkunde, die ihn 1964 rehabilitiert hat. Postum also, und Chruschtschows Beamte mochten nicht weiter forschen: Ort und Umstände des Todes von Alexandr Wedenskij sind bis heute unbekannt geblieben. Sein Werk erst recht. Zwar hat die 'Friedenauer Presse Berlin‘ zwei Texte in deutscher Sprache veröffentlicht, und der Übersetzer Peter Urban hat Lebenszeugnisse des Dichters gesammelt, der zur Petersburger Avantgarde der 20er Jahre gehört hat. Raritäten für Kenner, und auch im heutigen Rußland scheint Wedenskijs Bedeutung erst jetzt wieder ins öffentliche, literarische Bewußtsein zu rücken.

So kann sich das Hamburger Thalia Theater einer Weltpremiere rühmen: 55 Jahre nach der Niederschrift kam auf seiner kleinen Studiobühne am Samstag Wedenskijs Drama Weihnachten bei Iwanows zur Uraufführung. Eine einstündige Moritat in vier Akten und neun Bildern. , die in all ihrer Kürze ermessen läßt, welch überragender Kopf da dem stalinistischen Terror zum Opfer gefallen ist. Denn Wedenskij, 1904 in Petersburg geboren, durfte fast nichts veröffentlichen. Er schrieb für Kinderzeitschriften und verfaßte Kinderbücher, was die Zensur offenbar (und wie immer zu unrecht) weniger anstößig fand, der Rest blieb in der Schublade. Und in Charkow, der Provinz, wohin sich der 31jährige nach monatelanger Verbannung zurückzog. Aber als Hitlers Truppen vor der Stadt standen, wurde er wieder verhaftet, wieder von Stalins Schergen, und diesmal gab es keine Rückkehr mehr: Zu Lachen hatte er wahrlich nichts. Aber er lachte, er lachte radikal und hochgradig literarisch; der heute sehr viel berühmtere Daniil Charms nennt ihn deshalb seinen Lehrer.

Dem Unterricht dürfte nicht immer leicht zu folgen gewesen sein. Es sei denn, wir wären Tiere im Walde und hörten der Giraffe zu, die am Abend vor der russischen Weihnacht ihre Schulstunde abhält. „Die Uhr geht“, fragt sie. „Wie Schafherden, wie Büffelherden, wie Störknorpel“, antworten der Reihe nach der Wolf, der Löwe und das schweinische Ferkel. Das verstanden nicht nur die Kinder richtig, für die Wedenskij schrieb, und die nun auch bei Iwanows Weihnachten feiern möchten. Zu ihnen zählt ein Mädchen von 82 und eines von 32 Jahren, der Junge Misa Pestrow gar humpelt als 76 Jahre alter Kriegsveteran auf die Bühne: Wedenskijs wahres Publikum also, auf das die literarische Methode abzielt.

Sie gehört in die Tradition des Absurden, selten jedoch waren dort die Ergebnisse derart prägnant. Wir ahnen zahllose zeitaktuelle Anspielungen, zu recht jedoch nimmt der junge russische Gastregisseur Nikolai Sykosch dieses Stück — es gehört zu Wedenskijs letzten Werken — als leichtfüßige Gesellschaftskomödie, befreit es von allem avantgardistischen Kellergeruch und gibt ihm realistische Versatzstücke auf den Weg. Es dampft aus der Wanne, worin die Kinder gebadet werden, und die singenden Holzfäller stapfen schwer in den verschneiten Wald.

Sie weinen um den gefällten Tannenbaum, aber zu Hause hat die Amme das Kind erschlagen. Das ist die Handlung und ist wieder ein Kindervers, ein Kehrreim, der mit jeder Wiederholung eine neue Schicht eines durchaus nicht surrealistischen, sondern sehr gegenwärtigen Verhängnisses freilegt. Die Amme hat das Kind erschlagen: Wie Stalin die Jahrhunderthoffnung, wie das Lager die Kunst, wie der Funktionär den Geist. Die Tat, die verallgemeinerbar grausige, ereignet sich im ersten Bild, die schöne Amme greift zum Beil, der Kopf der siebzehnjährigen Warja Petrowa muß danach ohne seinen Körper auskommen.

Der Bühnenbildner Dirk Thiele hat das Grundmotiv als nekrophiles Arrangement in den Bühnenhintergrund gestellt, und alles andere fällt nun leicht. Das schreckliche Bündel aus Gewalt, Schikane und Dummheit, auch Melancholie und Obszönität, ist nur ein Scherz aus Worten und kleinen Szenen, die aus einem guten Dutzend anderer Theaterstücke stammen könnten, aus realistischen Stücken, aus Psychodramen und auch aus antiken Tragödien mit Chören, die aber alle nie diese synthetische Radikalität erreichen könnten. Nur sie war offenbar geeignet, dem Ungeist parteilicher Vorschriften zu widerstehen.

Und hier, auf der Ebene der reinen Form, verschwindet nun auch der Unterschied zwischen Regieanweisung und Text. Der Regisseur läßt beides gleichermaßen sprechen wie aufführen. Beides ist Sprache, und nur auf sie ist Verlaß, auf mögliche Personen und Figuren nicht. Sie können nur noch zitiert werden und sind dann etwa müde Polizisten, oder Alkoholiker und Nymphomanen, allesamt ohne Chance also, dieser Welt zu entkommen. Allein in der Logik des Abzählverses steckt eine gewisse Hoffnung: Sie nämlich kennt keine Gnade, am Ende sind sie alle tot. Keine Anklage und kein Protest, es geschieht so unmißverständlich wie die Zeiger auf jener Uhr vorrücken, die laut Regieanweisung an der Wand hängt — „links der Tür“.

Der Hamburger Bühnenbildner hat sie weggelassen, ihr Mechanismus wirkt im Innern des Textes. „Was für ein trauriger Tannenbaum“, sagt die Mutter und stirbt als letzte.

Alexandr Wedenskji: Weihnachten bei Iwanows. Regie: Nikolai Sykosch. Bühne: Dirk Thiele. Mit Cornelia Schirmer, Oana Solomesu, Jan Josef Liefers, Petra Zieser, Ralf Grawe u.a. Thalia Theater Hamburg (TiK). Nächste Aufführungen: 2., 8., 14., 23.Februar.