: Pogrom als Theaterprobe
■ Neuanfang in Potsdam mit einer Jurjew-Erstaufführung
Als der große jüdische Schauspieler und Regisseur Salomon Michoels begraben wurde, soll ein Geiger auf dem Dach eines zweistöckigen Hauses gegenüber dem Moskauer Jüdischen Theater gespielt haben. Ein Augenzeuge glaubte, er habe ein Chagall-Bild, versetzt in den Moskauer Alltag des Jahres 1948, gesehen. In dem kleinen Innenhof des Potsdamer Theaters wird das Bild inszeniert: Während sich die Premierenzuschauer fröstelnd am Einlaß versammeln, um den Kleinen Pogrom im Bahnhofsbuffet zu sehen, spielt eine Geige. Auf dem Fensterbrett im zweiten Stock, halb herausfallend, hängt der Fiedler im zerknitterten Theaterfrack. Unten verladen zwei Schauspieler „echte Möbel aus dem Theaterfundus“ auf einen Karren.
Das kunstvolle Happening wird gleich in realunartistischer Aggressivität aufgehoben: Im schmalen Durchgang zur Probebühne, auf der nur wenige Zuschauer Platz finden, kommt es zu einem Stau. Im Halbdunkel des Saals, wo Bühne und Zuschauerraum eins sind, ereignet sich der erste Theaterpogrom: Der nervöse Regisseur, der während der Vorstellung als einziger rauchen darf, schreit rüde: „Keinen mehr reinlassen! Schluß jetzt!“ Der geduckte Assistent versucht an höhere Gerechtigkeit zu appellieren: Die im Durchgang eingeklemmte Minderheit hätte auch Karten. „Schluß jetzt, hab ich gesagt!“ Die Selektion hat stattgefunden, die nicht gespielte Aggressivität sich offen entladen, und die Zuschauer wurden ,ziemlich existentiell' eingestimmt.
Die Vermischung von Theatralik und Realität liegt ganz im Sinne des Stückes. Der 1959 im damaligen Leningrad geborene Autor Oleg Jurjew (er lebt jetzt in Deutschland) baute seine „kleine jüdische Tragödie“ nach dem Prinzip der chinesischen Schachtel oder russischen Matrjoschka: In einem steckt das andere, im anderen etwas drittes und so weiter — im Stück wird ein Stück wird ein Stück wird ein Stück geprobt, die Schauspieler haben mehrfache Masken zu tragen. Die Bühnenrealität wird immer wieder aufgehoben, alles ist dabei höchst „real“ und authentisch, wie die stickige Luft in der Probebühne mit dem Geruch von Staub und Zigarettenrauch. — In einem kleinen russischen Bahnhofsbüffet, wo seit einer Ewigkeit keine Gäste mehr speisen, weil kein Zug länger als fünfzehn Minuten hält, hocken drei Juden: Awreml, seine Frau Dwojra und der hinkende Jankel. Das Kind ist gerade ins Nachbardorf geschickt worden, um eine Schere zu holen. Die Juden machen jüdische Witze, sprechen wie die Helden Babels, also in rhythmisierter Prosa, und bereiten sich auf das Spiel vor: Aus Langeweile machen sie Theater — für sich selbst. Plötzlich bekommen sie unerwünschte Zuschauer. Drei Russen erscheinen als Todesengel, die „Pogromtschiki“: ein Priester, ein Telegrafist und ein Weichensteller. Sie warten auf die Schläger aus der Stadt und möchten sich zum Zeitvertreib das Stück angucken, das da gerade geprobt wird: über den Propheten Iona, einen Menschen, der allein durch seine Anwesenheit anderen Unglück brachte und stets versuchte, seinem Schicksal zu entgehen, und doch von Gott so beharrlich darauf gestoßen wurde. Die Juden spielen es als Parabel auf den Leidensweg der Nation, Prosa wird zu Versen, psychologische Nuancen zur Deklamation. Sie schreien verzweifelt die Entlarvung der „Leute von Ninive“ den Russen ins Gesicht: Freßsäcke, Gammler, Zuhälter, Betrüger, Heuchler, mit einem Wort: Mörder. Ihr Spiel ist nur ein Aufschub des erwarteten Todes. Die Gewalt schlägt durch, noch bevor das Stück zu Ende ist.
Die Frau wird getötet, als sie zur Tür stürzt; das Spiel bricht ab, das Ganze ist nur ein Spiel. Jankel (der Regisseur, mit rotem Schal) gibt seiner jüdischen Truppe Anweisungen, zeigt, wie man effektvoll stirbt und wie die Russen gespielt werden sollten. Das Spiel geht weiter, an der Tür erscheinen die Schläger, das Spiel wird abermals unterbrochen: Der russische Regisseur korrigiert seine Kollegen, meint, daß sie mit ihren jüdischen Nasen doch übertreiben und daß der Schal des Regisseurs zu rot sei. Lichter gehen aus, im Raum bleiben nur noch Zuschauer. Da erscheint auf der leeren Bühne der Junge, der die Schere gebracht hat. Sie ist real. Doch der Junge wird von einem Mädchen gespielt, und seine Schläfenlöckchen sind angeklebt. Die Fiktion soll die Fiktion in die Realität umkehren und den Zuschauer vollends verwirren. Die Verwirrung findet leider nicht statt, der Pogrom wird verlagert.
Das Stück ist auf Überraschung und stilistische Überhöhung gebaut. Auf den scharfen Bruch, auf die Pointe. Guido Huonder, der neue Intendant des Potsdamer Hans-Otto- Theaters, gibt mit Kleiner Pogrom als Westler im Osten seinen Einstand. Doch er inszeniert das Stück an den Pointen vorbei, realistisch, in Zimmertheatermanier. Der Staub aus Puder wirkt echt, Licht schalten die Darsteller selbst an und aus, die Uhr zeigt „real time“, alles ist auf die Authentizität, auf psychologische Nuancen, auf ein zähes, verlangsamtes Tempo eingerichtet. Nicht auf Spiel, Stil, Theater. Die Intention läuft dem Parabelcharakter des Stücks zuwider, bedient dessen Künstlichkeit nicht. Es schafft keine Distanz zwischen Bühne und Zuschauer, welche die Überhöhung überhaupt gestatten würde. Und so gerät Kleiner Pogrom am Bahnhofsbuffet unentschieden. Intelligent und blutarm. Oksana Bulgakowa
Oleg Jurjew: Kleiner Pogrom am Bahnhofsbuffet. Regie: Guido Huonder. Bühne: Gerd Herr. Mit Roland Kuchenbuch, Gertraut Kreißig, Bernhard Geffke, Dieter Klebsch. Hans-Otto-Theater Potsdam, Probebühne. Nächste Aufführungen: 3., 8., 17. u. 22.2.
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