Serbien oder Klein-Jugoslawien?

In Belgrad ist nach der internationalen Anerkennung Sloweniens und Kroatiens die Debatte um die Zukunft Serbiens voll entbrannt. Denn wieso sollen die Serben zukünftig keinen Strandurlaub mehr an der Adria machen dürfen?  ■ AUS BELGRAD ERICH RATHFELDER

Der Mann läßt sich nicht aus der Ruhe bringen. Langsam setzt er das Glas an und trinkt einen Schluck von dem unvermeidlichen Schnaps, der in Belgrad schon zum Frühstück genossen wird. „Wie es jetzt mit Serbien weitergeht? Wissen Sie, hier gibt es für die Lösung der politischen Probleme nur zwei Möglichkeiten: eine realistische und eine surrealistische. Die realistische ist, daß kleine grüne Männchen vom Mars kommen und alles in Ordnung bringen. Die surrealistische ist, daß dies unsere Politiker tun.“

Viele Witze kursieren dieser Tage in der serbischen Hauptstadt. Denn man läßt sich nicht gerne anmerken, wie tief der Zerfall Jugoslawiens die eigene Psyche getroffen hat. Erst jetzt, nachdem der internationale Akt der Anerkennung für Kroatien und Slowenien vollzogen ist, wird vielen Serben bewußt, daß Serbien wieder einmal allein da steht. „Jugoslawien, das war ein serbisches Produkt“, sagt Sascha Ciric, ein Publizist mit durchdringenden Augen und beachtlichem Rauschebart. „Was die Zerstörung Jugoslawiens bedeutet, haben viele noch gar nicht begriffen.“

Serben waren es, die unabhängig und siegreich nach dem Ersten Weltkrieg die Gründung Jugoslawiens betrieben. Und Serben waren es, die im Zweiten Weltkrieg den deutschen und italienischen Besatzern den härtesten Widerstand entgegensetzten. Serben waren aber auch diejenigen, die den Staat in seinen wechselnden Perioden beherrschten. „Die Identifikation mit Jugoslawien ging ja so weit, daß die Serben in diesem Vielvölkerstaat nach 1945 auf die Gründung einer Republik verzichteten, die alle Serben umfaßte — dies ist eines der Hauptprobleme heute.“ Dies ist eine gängige Meinung in allen Gruppen der serbischen Gesellschaft. Die Serben vertrauten sich Jugoslawien an; ohne Jugoslawien leben zu müssen, erscheint vielen immer noch fast unvorstellbar.

Für Lina Vuckovic, Aktivistin der serbischen Friedensbewegung, ist es schon jetzt ein Greuel, daran denken zu müssen, daß später Grenzen das Land durchschneiden werden, auch wenn wieder Frieden einkehren sollte: „Wir waren so froh, als sich 1989 die Grenzen in Europa öffneten.“ Und sie spricht für viele, die sich nicht heimisch fühlen wollen in einer von nationalistischer Engstirnigkeit geprägten Region. Mit dem Zerfall des Staates sind ganz einfache Dinge, wie der Wunsch, nur mal am Wochenende ans Meer zu fahren, unerreichbar geworden.

Und doch sind die Motive für die Trauer um Jugoslawien höchst unterschiedlich. Die Angestellten der Bundesinstitutionen sehen bangen Blickes der Arbeitslosigkeit entgegen. An den Universitäten und Forschungsinstituten macht sich Angst breit, machten doch viele Projekte nur auf gesamtstaatlicher Ebene einen Sinn. Vor allem aber betrifft der Zerfall des Bundesstaates die Armee. Die Offiziere, in einer gesamtjugoslawischen Tradition erzogen, können ihre Rolle in einem verkleinerten Jugoslawien nicht mehr definieren. Zum Verlust des gesellschaftlichen Prestiges kommen nun Existenzängste hinzu. Selbst wenn jetzt nur noch 45.000 Offiziere aktiv sind — 25.000 haben die Seite gewechselt und dienen nun in Kroatien oder Slowenien — ist äußerst ungewiß, wer in Zukunft angesichts der maroden Wirtschaft Serbiens für Gehälter und Pensionen der Verbliebenen geradestehen soll.

So ist es nicht unverständlich, wenn die Gefühle wallen. Und wie so oft werden auch hier aggressive Mächte von außen für die Misere verantwortlich gemacht — „ob es nun das Vierte Reich, der Vatikan, Körnerfresser oder Radfahrer sind“, spöttelt Milos Vasic, ein Journalist des bekannten Oppositionsmagazins 'Vreme‘, in Anspielung auf die Regierungspropaganda. Doch nicht nur die Milosevic-Nomenklatura tut sich schwer bei der Verarbeitung: Nationalisten definieren die ethnische Karte Ex-Jugoslawiens weiterhin um und kommen zu dem Schluß, daß überall dort, wo Serben leben, auch Serbien sei. In ihren Träumen kreieren sie damit einen Staat, der kaum kleiner als Jugoslawien ist, und wollen dafür weiterhin mit Waffen kämpfen. Viele Offiziere sehen es nicht ungern, wenn die Spannungen anhalten und konstruieren angesichts des steigenden Unwillens vieler junger Männer, in der Armee zu kämpfen, gegenüber den Friedensbefürwortern eine Art Dolchstoßlegende. Moderate hoffen auf den Waffenstillstand, auf Friedensverhandlungen und den Zusammenhalt des Staates Jugoslawien in seinen jetzigen Grenzen. Und nur manche wollen der nackten Realität ins Auge sehen — daß nämlich auch Serbiens Stellung in einem solchen Restjugoslawien höchst ungewiß ist.

„Keiner stimmt mehr für Milosevic“

„Wenn wir von Feinden umgeben sind, wie Milosevic sagt, sind nicht nur die anderen schuld. Dann muß dies auch an uns liegen.“ Der dies sagt, fand nach dem Studium keinen Job und verkauft jetzt Zigaretten. „Wir müssen uns um uns selbst kümmern. Die Inflation liegt schon bei 3.000 Prozent, die Wirtschaft ist bankrott, die Nomenklatura immer noch an der Macht. Die Serben sollten kapieren, daß wir uns auf uns selbst konzentrieren müssen.“

Der Raum war überfüllt. Als am letzten Donnerstag die Redner verschiedener Oppositionsparteien zu einer Solidaritätsveranstaltung mit Vuk Draskovic eintrafen, brauste donnender Beifall der etwa 1.000 Zuhörer auf. Denn Vuk Draskovic, Vorsitzender der Serbischen Erneuerungsbewegung, soll vor Gericht gestellt werden, weil er vor fast einem Jahr die Protestbewegung des 9.März unterstützt hatte. Zehntausende waren damals gegen Milosevic auf die Straßen gegangen. Panzer wurden eingesetzt, und Vuk Draskovic wurde für einige Tage festgenommen. „Wenn Milosevic einen neuen 9.März will, werden wir ihn ihm schenken“, ruft unter dem Jubel der Zuhörer Vojislav Kostunica, ein Dissident der Demokratischen Partei und Aufsteiger in der sich demokratisch nennenden Opposition. Auch andere Redner zeigen sich unversöhnlich gegenüber der Regierung. „Die Protestbewegung ist wieder da“, sagt Pavlusko Imsirovic, ein stadtbekannter Dissident. Und er weist darauf hin, daß sich auch in der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung etwas tut. Die Vereinigten Branchengewerkschaften hätten schon mehr als 150.000 Mitglieder. Und seit die Plakate der Friedensbewegung mit der Parole „Ne ratu“ — „Kein Krieg“ überall in der Stadt zu sehen sind, ist auch ein äußerliches Zeichen für diese Aktivitäten gesetzt.

Mobilisierend wirkt auch, daß es in einigen Wochen zu Kommunalwahlen in Belgrad kommen soll. „Meine Eltern haben noch bei den letzten Wahlen für Milosevic gestimmt“, sagt ein Zuhörer, „doch beim nächsten Mal bestimmt nicht mehr.“ Kein Zweifel, Milosevics Sozialisten, die schon bei den letzten Wahlen in Belgrad unter dem serbischen Landesdurchschnitt blieben, werden diesmal in der Hauptstadt nur schwerlich gewinnen können. Denn neben den auf der Versammlung vertretenen Parteien werden auch die zur politischen Mitte zählende Demokratische Partei und die Partei des rechtsradikalen Vojislav Seselj nicht chancenlos bleiben. Mirko Jovic, ein anderer rechtsradikaler Führer, kündigte unterdessen die Umwandlung seiner Nationalen Erneuerungspartei in eine terroristische Organisation an, die kroatische Botschaftsgebäude im Ausland in die Luft sprengen wolle.

Mit dem Waffenstillstand haben sich in Serbien die politischen Koordinaten verändert. Kritik an Milosevic kann nicht mehr gleichgesetzt werden mit dem Verrat am Vaterland. Aber selbst in der demokratischen Opposition mischen sich recht munter radikaldemokratische und nationalistische Positionen. Kein Redner auf der Versammlung brachte es fertig, auf die Opfer des Krieges einzugehen — geschweige denn auch nur anzudeuten, daß die Vertreibung der kroatischen Bevölkerung aus den von serbischen Freischärlern und der Armee besetzten Gebieten vielleicht ein Verbrechen sein könnte.

Die schärfste und wirkungsvollste Kritik an Milosevic formulieren jene Serben aus Kroatien und Bosnien, die sich angesichts der Vereinbarung zwischen Milosevic und dem UNO- Sonderbeauftragten Cyrus Vance über die Stationierung von UNO- Truppen verraten fühlen. Denn mit der Zusage, die Armee aus den besetzten Gebieten in Kroatien zurückzuziehen und UNO-Truppen einrücken zu lassen, würden die Serben dieser Region erneut einer ungewissen Zukunft ausgesetzt, argumentieren sie. Dann hinge ihr Wohl und Wehe von den kommenden Verhandlungen ab. Und damit von den Verhandlungsführern.

Bedeutet aber nicht gerade der Begriff der „balkanischen Politik“, daß Zusicherungen in der Geschichte oft von den Mächtigen zurückgenommen wurden? „Hat nicht“, so fragen die Serben dort, „Milosevic in den letzten Jahren zu viele Gesichter gezeigt?“ Wenn schon für die Selbstbestimmung mit Waffengewalt gekämpft wurde, so möchten viele dieser Serben die Verhandlungen nicht jemandem anvertrauen, der seinen Kurs schon mehrmals geändert hat. „Milosevic hat die Serben der Region für ein Butterbrot verkauft“, sagt sogar Milos Vasic, der 'Vreme‘- Journalist.

So ist reziprok zu Milosevics Prestigeverlust der Einfluß der Serbenführer außerhalb Serbiens angewachsen. Milan Babic, Präsident der seit Anfang Januar unabhängig erklärten „Serbischen Republik Krajina“, hat sich zum Sprachrohr dieser Ängste gemacht. Vor wenigen Tagen lehnte er in einem Briefwechsel mit Milosevic einen über die Sicherung der Demarkationslinien hinausgehenden Einsatz von Blauhelmen strikt ab. Und Radovan Karadzic, der Führer der Serben Bosniens, hat ihn dabei deutlich unterstützt. Der Spielraum der beiden Serbenführer wird zwar durch die finanzielle Abhängigkeit von der serbischen Regierung eingeengt — doch scheinen sich die Fronten täglich zu verhärten. Ein Anzeichen dafür ist, daß sich die Gespräche zwischen der Demokratischen Partei und dem Gespann Babic/Karadzic intensivieren. Der Sturz Milosevics ist unter diesen Bedingungen nicht mehr ganz ausgeschlossen.

Das ist für die Demokratische Partei politisch und moralisch nicht ganz ungefährlich. Denn die beiden Serbenführer sind — obwohl sie ja angeblich gegen den Faschismus kämpfen — umgeben von rechtsradikalen Eiferern, die nach einem Sturz von Milosevic nicht sanfter werden würden. Bekannt ist ja immerhin, daß in den besetzten Gebieten Kroatiens — den aus serbischer Sicht „befreiten serbischen Gebieten“ — eine Soldateska ihr groteskes Unwesen treibt, an dem Kriminelle ebenso beteiligt sind wie korrupte Armeeangehörige.

Ein Ausbrecherkönig als Oberbefehlshaber

Besonders hervorstechend ist das Beispiel des Zelko Rasnatovic, eines Verbrechers und Ausbrecherkönigs, dessen sich früher der Geheimdienst bedient haben soll, um exilierte Kroaten zu ermorden. Er ist nun zum militärischen Oberbefehlshaber der Baranja-Region und, wie manche in Belgrad sagen, zum Volkshelden aufgerückt. Daß unter solchem Kommando nicht nur die KroatInnen — Vergewaltigungen, die Ermordung Hunderter und die Vertreibung Hunderttausender gehen auf das Konto dieser Soldateska —, sondern auch Serben leiden, wird in Belgrad nur hinter vorgehaltener Hand erwähnt.

In Belgrad überschwemmen ganze Wagenladungen von Beutegut aus diesen Gebieten die Märkte. Hochwertige Winterschuhe aus den USA, die eigentlich 200 Dollar kosten, sind für ganze 1.500 Dinar (15 DM) zu haben. Schmunzelnd erzählt ein Händler, eine Panzerbesatzung hätte ihren Panzer mit Beutegut so vollgestopft, daß sie nicht mehr in den Panzer klettern konnten. Dann wurden sie beschossen und einige verwundet. „Aber diese Dinger sind sicher rausgekommen“, fügt er hinzu und deutet auf Video-Recorder.

Da diese Aktivitäten à la longue das serbische Ansehen vollends ramponieren, so lautet eine gutwillige Interpretation, könnten sie für Milosevic der Anlaß gewesen sein, möglichst schnell zu einem Waffenstillstand zu kommen. Doch dies ist unwahrscheinlich. Mehr zählt wohl, daß es ihm nicht gelang, die serbische Bevölkerung zum Kampf zu motivieren. Denn nach wie vor weigern sich viele der jungen Männer, in die Armee zu gehen. 60.000 Wehrpflichtige sind ins Ausland geflüchtet, viele davon auch nach Deutschland.

Vor allem aber gelang es dem serbischen Präsidenten, in den Verhandlungen mit Cyrus Vance eine für Serbien durchaus akzeptable Lösung zu finden. Mit der Stationierung von UNO-Friedenstruppen entlang der Demarkationslinie in Kroatien wären die serbischen Gebiete erst einmal militärisch abgesichert. Daß Friedenstruppen auch in die besetzten Gebiete gingen, würde sogar helfen, den gesetzlosen Zustand zu beenden. Die Verhandlungen könnten dann in die Länge gezogen werden. Außenminister Jovanovic sprach gegenüber der taz von einem Zeitraum von 15 bis 20 Jahren, bis es zu Volksabstimmungen kommen sollte.

Das Balkan-Spiel der USA

Im Gegenzug, so mehrere Quellen aus Belgrad, sei Milosevic versprochen worden, daß das verkleinerte Jugoslawien — also ohne Kroatien und Slowenien — überlebensfähig bleiben soll. Im Klartext: im US- amerikanischen Außenministerium hat sich die Meinung durchgesetzt, daß die Unabhängigkeit Bosniens und Montenegros ein zu großes Risiko für die Stabilität der Region darstellen könnte, zumal der angewachsene deutsche Einfluß mißtrauisch beäugt wird. Der mazedonische Präsident Gligorov und der bosnische Präsident Izetbegovic wurden dementsprechend von der US-Diplomatie unter Druck gesetzt. Da angesichts dieser Konstellation die Anerkennungseuphorie in Westeuropa abgeschwächt ist, sind die Aussichten für die beiden Republiken Bosnien-Herzegowina und Mazedonien, diplomatisch anerkannt zu werden, gesunken.

In Geheimgesprächen hat Milosevic zudem mit dem kroatischen Präsidenten Tudjman die zu Bosnien gehörende und von Kroaten bewohnte westliche Herzegowina zur Verhandlungsmasse geschlagen. Demnach könnte die Herzegowina zu Kroatien hinzugefügt werden, die von Serben bewohnte Krajina jedoch endgültig aus Kroatien ausscheiden. In den anderen besetzten Gebieten blieben die Friedenstruppen der UNO erst einmal weiter stationiert.

Ob diese Rechnung aufgeht, bleibt allerdings zweifelhalft. Denn weder die serbische Opposition noch die Serben in Bosnien und Kroatien vertrauen auf das Verhandlungsgeschick des Präsidenten. So ist ein politisches Vakuum entstanden, das die serbische Opposition nutzen möchte. „Milosevic ist zu einem Risikofaktor geworden“, bestätigt der Vizechef der Demokratischen Partei, Zoran Djindjic. „Wir brauchen einen historischen Vertrag zwischen den Republiken und Minderheiten in diesem verkleinerten Jugoslawien.“ Dies auszuhandeln, könne jedoch nicht die Sache Milosevics sein. Folgerichtig erregte es großes Aufsehen, daß sich serbische Oppositionspolitiker letzte Woche mit Parteien aus Mazedonien, Montenegro und Bosnien zu Gesprächen trafen. Sensationell war die Teilnahme der beiden Kosovo-Politiker Skelzen Maliqui und Veton Seroy. Djindjic schwebt eine Gebilde aus einer Föderation (Serbien und Montenegro), einer Konföderation (Bosnien und Mazedonien) sowie vielen konföderativen Strukturen innerhalb der Republiken vor, so daß auch die Serben Bosniens, die Muslimanen, die Albaner sich in diesem Staat wiederfinden könnten. Denn ohne eine neue Staatsidee, das ist den Oppositionspolitikern in Serbien durchaus bewußt, wäre dieses neue Jugoslawien auf völlig tönernen Füßen gebaut. Vielleicht braucht der Balkan doch nicht die kleinen grünen Männchen.