: Warten auf die gerechte Ordnung
Während die Moslems auf den Beginn einer neuen Zeitrechnung warten, diskutieren Islamwissenschaftler die Einführung westlicher Standards in der moslemischen Welt/ Tagung „Islam und Diaspora“ im Berliner Kongreßzentrum ■ Aus Berlin Jürgen Gottschlich
„Die Unterentwicklung der islamischen Welt und der Reichtum des Westens stehen in direktem Verhältnis zueinander.“ Necmettin Erbakan, Chef der islamischen REFA- Partei (Wohlfahrtspartei) in der Türkei, war der umjubelte Star des Kongresses „Islam und Diaspora“ in Berlin. Aggressiv machte er der islamischen Gemeinde Mut und entfachte immer dann besondere Beifallsstürme, wenn er mit der Arroganz des Westens abrechnete.
Wäre nicht das Publikum so ganz anders gewesen, fast hätte man sich in eine linksradikale Großveranstaltungen zurückversetzt wähnen können. Beispielsweise wenn Erbakan den Golfkrieg als reines US-Manipulationsmanöver entlarvt, um anschließend dramaturgisch geschickt in den Saal zu fragen: „Warum besteht eigentlich heute, ein Jahr nachdem Saddam Hussein den Kuwait verlassen hat, das Embargo gegen den Irak noch fort?“ Auf diese Frage gibt es nur eine Antwort, und Erbakan gibt sie: „Weil der Weltimperialismus im Irak ein Exempel statuiert.“ Während im Westen der Golfkrieg schon fast wieder vergessen ist, war am Wochenende im Berliner Kongreßzentrum deutlich zu beobachten, welchen nachhaltigen Eindruck dieser Krieg in der islamischen Welt hinterlassen hat. Für die islamische Bewegung ist dabei eine Erkenntnis zurückgeblieben, die in der Breite und Schärfe vor dem Krieg so nicht in den Köpfen war. „Seit nunmehr 300 Jahren“, so Erbakan, „herrscht der Westen mit keiner anderen Legitimation als dem Recht des Stärkeren. Diese weltweite Ordnung der Ungerechtigkeit muß verändert werden.“ In der Menschheitsgeschichte hat es nach Auffassung Erbakans immer wieder Phasen gerechter Ordnung gegeben, die jeweils mit den großen Propheten der monotheistischen Religion verknüpft waren. Nach Abraham, Moses, Jesus und Mohammed stehen wir nun erneut an der Schwelle zu einer „gerechten Ordnung“.
Gegen die Woge der Empörung versuchte der deutsche Islam-Experte Udo Steinbach, Leiter des Hamburger Orient-Instituts, Ratio plus Islam zu setzen. Allein der Ruf „der Islam ist die Lösung“ sei eben keine Lösung, behauptete Steinbach beharrlich. Bestes Beispiel ist der Iran, wo jeder besichtigen könnte, daß eine „islamische Wirtschaftsordnung nicht funktioniert“. „Das Durchschnittseinkommen im Iran ist nach zehn Jahren islamischer Herrschaft weit geringer als zu Schah- Zeiten.“ Notwendig sei nun nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und ein Jahr nach dem Golfkrieg die nüchterne Analyse der Beziehungen zwischen dem Westen und der islamischen Welt. Gegen die Chancen einer Neugestaltung des Verhältnisses stehe zur Zeit vor allem eine wechselseitige Bedrohungspsychose. Seit Chomeini würde im Westen die islamische Gefahr beschworen, und seit dem Golfkrieg fürchteten die islamischen Länder umgekehrt, zum neuen, den Kommunismus ersetzenden Prügelknaben westlicher Ideologen zu avancieren. „Tatsächlich“, so Steinbach, „ist die größte Gefahr im Moment, in die ideologische Falle einer Nord-Süd- Konfrontation zu laufen.“
Dagegen setzte er die Konsequenzen aus den konkreten Erfahrungen. Der Weg für die islamischen Länder „liegt zwischen Chomeini und Saddam Hussein.“ Die islamische Welt muß die Auseinandersetzung mit der Moderne leisten, ohne den Westen kopieren zu wollen wie Saddam Hussein, und ohne den fundamentalistischen Isolationismus des Iran.
Außer Steinbach warnten auch andere davor, Selbstbewußtsein und Identität des Islam in Konfrontation zum Westen zu suchen. Der Kölner Islamwissenschaftler Prof. Falaturi bemühte sich, Gemeinsamkeiten zwischen dem westlichen Menschenrechtsverständnis und dem Koran nachzuweisen, mit deren Hilfe kulturelle Brücken gebaut werden könnten. Vor allem das islamische Toleranzgebot gegenüber Andersgläubigen gilt Falaturi als Beleg, daß der Koran sehr wohl auch individuelle Menschenrechte schützt. Schließlich ist für den gläubigen Moslem jeder Mensch entweder ein Bruder im Glauben oder „ein Geschöpf Gottes“.
Etwas zu profan war den rund tausend Zuhörern in der weiten Halle des ICC der Versuch des Bochumer Wirtschaftswissenschaftlers Nienhaus, Kapitalismus und Islam kompatibel zu machen. Der großen Gerechtigkeit Erbakans setzte er die kleine Gerechtigkeit „angemessener Preise“ voraus, die nur durch freien Wettbewerb erreicht werden könnten. Die Privilegienwirtschaft in den meisten islamischen Ländern entspräche dem Islam keineswegs. Gefordert seien vielmehr „individuelle Leistung“, gerechte Preise und Schutz vor staatlicher Willkür. „Wenn ich in den Koran schaue, kann ich diese Prinzipien gut daraus ableiten“, erläuterte Nienhaus seine Text-Exegese.
Der kleine Prophet aus der Türkei machte unter dem Jubel seiner Änhänger mit diesen Thesen allerdings kurzen Prozeß. Gerade in Ankara habe man ja versucht, solchen Ratschlägen zu entsprechen, und mit welchem Erfolg: Der Internationale Wirtschaftsfonds (IWF) diktiert die türkischen Brotpreise, die Inflation liege dennoch bei 80 Prozent, und für einen Kredit müssen türkische Geschäftsleute 120 Prozent Zinsen zahlen. „Das Ziel des Propheten ist Gerechtigkeit, und dieses System ist ungerecht.“ Den Profit davon hat ausschließlich eine kleine Gruppe in der Wallstreet, „die die Menschheit unterdrückt“.
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