Redefreiheit ist das Leben

Am 14. Februar jährt sich die Morddrohung gegen Salman Rushdie zum dritten Mal — aber wer interessiert sich noch für den „Fall Rushdie“? Die Frankfurter Buchmesse im letzten Oktober hat gezeigt, wie ein Skandal durch Gewöhnung in die Normalität abgleitet. 1989 hatte die Messeleitung iranische Verlage ausgeschlossen und getönt, das gelte so lange, bis die Morddrohung aufgehoben werde. Doch diesmal, so heißt es, war sie vom Auswärtigen Amt unter Druck gesetzt worden, die iranischen Verlage wiederzuzulassen. Die Buchmesse sei „keine moralische Anstalt“, verkündete sie. Erst durch einen Protestbrief Salman Rushdies an die Kulturzeitschrft 'Lettre International‘, durch Grass' und Enzensbergers Donnerworte wurden die Dinge wieder geradegerückt. Und Wirtschaftsminister Möllemann genierte sich anschließend nicht, bei der Eröffnung der Buchmesse die iranische Führung ganz allgemein zur „Toleranz“ aufzurufen.

Den „Fall Rushdie“ und die Tausende von vollstreckten Todesurteilen im Iran selbst zum Thema zu machen war einfach nicht mehr opportun. Seit Ende des Golfkrieges blüht das Geschäft mit Teheran wieder. Das Land gilt als zuverlässiger Schuldner, und seit Beendigung des Krieges mit dem Irak ist eine ganze Wirtschaft wieder aufzubauen. Daß die iranische Führung nicht bereit ist, die Politik der „Fatwa“ zu revidieren, zeigte sie nach Rushdies Zugeständnissen Weihnachten 1990, als er die Taschenbuchausgabe der Satanischen Verse vorläufig suspendiert hatte. Das auf ihn ausgesetzte Kopfgeld wurde auf 4,5 Millionen Mark angehoben, der japanische Übersetzer der Satanischen Verse durch ein Attentat getötet, der italienische verletzt. Rushdie heute zu seiner „Umarmung des Islam“, wie er es nannte, die ihm damals auch Feinde unter bisherigen Freunden einbrachte: „Ich sagte, Salman, du mußt eine Botschaft aussenden, die so laut ist, daß sie auf der ganzen Welt gehört wird. Du mußt dem normalen Muslim klarmachen, daß du nicht sein Feind bist, und gleichzeitig dem Westen ein wenig mehr Verständnis für die Komplexität der muslimischen Kultur beibringen.“ Aber seine Hoffnung mußte Rushdie schnell aufgeben: „Allzuviele Menschen hatten sich zulange damit beschäftigt, mich zu dämonisieren oder zu totemisieren, als daß sie mich ernsthaft angehört hätten.“ Die „Fatwa“ wurde erneuert.

In einer Rede, die er im Dezember 91 an der New Yorker Columbia University hielt, kündigte Rushdie jetzt doch die Taschenbuchausgabe der Verse an. Er hofft immer noch: „Vielleicht werden sich die Muslime eines Tages darauf verständigen, daß der Streit um die Satanischen Verse im Grunde ein Streit darüber war, wer die Macht über die große Erzählung haben sollte, die Geschichte des Islams, und daß diese Macht jedem gleichermaßen zusteht.“

Der Fall Rushdie sollte am dritten Jahrestag der Fatwa nicht dem routinierten Gedenken der veröffentlichten Meinung überlassen bleiben. Es reicht nicht, die Feuilletonchefs am 14. Februar auf die Kommentarseiten vorzulassen, um sie über die „Ohnmacht des Worts“ klagen zu lassen. Es ist ja auch daran zu erinnern, daß Rushdie ebensosehr für die provokative Kraft des Worts steht. Darum greifen wir eine Idee des deutschen PEN Clubs auf: Schriftsteller und Schriftstellerinnen schreiben offene Briefe an Rushdie, möglichst auch solche Schriftsteller, die sich bei Solidaritätskampagnen gewöhnlich zurückhalten. Sie sollen ihre Namen schließlich nicht unter eine Unterschriftenliste setzen — sie sind frei, ihre Solidarität mit ihren eigenen Mitteln, ihrem Witz, der Kraft ihres Worts zu erklären. Die Briefe könnten ebensogut die Form eines Essays wie eines Dramoletts haben. Geschichten und Gedichte sind ebenso denkbar. Immerhin handelt es sich um Briefe von Dichtern! „Redefreiheit“, sagt Rushdie, „ist das Leben.“

Rushdie schickte uns einen Brief mit seiner Zustimmung zur Aktion. Er dankte vor allem Günter Grass, dem ersten Briefschreiber. „Es gibt Anzeichen dafür“, schrieb er an die taz, „daß die Politiker, die in letzter Instanz diese Angelegenheit erledigen müssen, anfangen, die wachsende Besorgnis der Öffentlichkeit zur Kenntnis zu nehmen. Ich bin sicher, daß die Kampagne, die Sie initiieren wollen, dabei sehr helfen wird.“

Der Brief von Günter Grass steht heute nicht nur in der taz, sondern auch in 'Libération‘, 'La Stampa‘, 'El Pais‘, 'The Guardian‘, der Moskauer 'Nesavisimaja Gaseta‘ und anderen Zeitungen des WORLD MEDIA-Netzwerks, dem die taz angehört. Denn auch WORLD MEDIA war von der Idee begeistert. Die Zeitungen machten nicht nur mit, sondern kontaktierten auch weitere Schriftsteller. Viele haben jetzt schon zugesagt.

Nicht wenige aber haben auch abgelehnt — aus Überarbeitung, weil es nichts Neues zu sagen gebe, aber auch, wie im Falle eines arabischen Autoren, weil sie selbst bedroht sind. Dem Brief von Grass werden bis zum Jahrestag der Morddrohung (und vielleicht darüber hinaus) in schnellem Rhythmus Briefe von Johannes Mario Simmel, F.C. Delius, Nadine Gordimer, Elfriede Jelinek, Norman Mailer, Juan Goytisolo und anderen folgen. Rushdie hat uns versprochen zu antworten.

Thierry Chervel

Michael Rediske