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Obdachlose gestalten sich ein Zuhause

■ In der Lichtenberger Rhinstraße leben ehemals Obdachlose, die im November Wohncontainer am Hegelplatz besetzt hatten

Lichtenberg. »Sie nennen uns asozial. Das heißt nicht gesellschaftsfähig. Hier wohnen lauter sogenannte Asoziale, die einwandfrei bewiesen haben, daß sie doch gesellschaftsfähig sind. Sonst würde es diese Gruppe nicht geben.« Der Hang zum Philosophen ist bei Herbert, 50 Jahre, unverkennbar. Seine Etagenmitbewohner wissen, warum sie ihn in den Sprecherrat gewählt haben. Herbert ist einer von 80 ehemals Obdachlosen, die im vergangenen November über zwei Wochen Wohncontainer am Hegelplatz besetzt hatten. Nach langen Verhandlungen mit Wohnungsbaugesellschaften, Stadträten und der Sozialsenatorin räumten die Besetzer die Container und zogen in ein Haus in der Lichtenberger Rhinstraße. Dort leben sie seitdem auf acht Etagen, überwiegend in Zweibettzimmern, betreut von vier Sozialarbeitern.

Der jüngste der Ex-Obdachlosen ist gerade einmal 18, der älteste 56 Jahre alt. Für viele von ihnen ist das ehemalige Arbeitnehmerwohnheim der SED das erste warme Zuhause seit Jahren. Als sie hier eingezogen waren, hatten die wenigsten einen Paß, geschweige denn eine polizeiliche Anmeldung. »Wir haben uns sogar eine Geburtsurkunde aus Österreich schicken lassen«, erzählt Sozialarbeiter Karl-Heinz Kramer. »Drei Monate haben wir nichts gemacht als Identitäten wiederhergestellt und Ämter abgeklappert.« Das Werk ist vollbracht: 80 Namen, die jahrelang aus den Registern bundesrepublikanischer Ämter verschwunden waren, sind dorthin zurückgekehrt.

Seit der Besetzung der Wohncontainer haben sich die 80 Treber, die sich jahrelang alleine durchs Leben geschlagen haben, zu einer Gruppe entwickelt, die mehr ist als nur eine Notgemeinschaft. Über einen gewählten Sprecherrat gestalten die Bewohner des Hauses in der Rhinstraße ihr Leben eigenverantwortlich und selbstverwaltet.

Jeden Dienstag tritt der Rat zusammen, diskutiert Auseinandersetzungen und Streitereien sowie Neuaufnahmen und Ausschlüsse. Letztere hat es auch schon gegeben. Wer sich nicht an die goldenen Regeln der selbstverfaßten Hausordnung hält, wird abgemahnt oder fliegt raus: bei Diebstahl, Körperverletzung oder Randaliererei. »Ohne Regeln geht das in so einer Gruppe auch nicht«, sagt Herbert. »Dann wäre hier totales Chaos.« Anlaß für Streit gibt es oft. Der eine hat sich wieder mal nicht am Hausputz beteiligt, ein anderer weckt im Suff das halbe Haus. »Aber eigentlich verstehen wir uns prima«, sagt die 25jährige Petra, eine von nur zwei Frauen im Haus. »Warum sollen wir nicht hier bleiben?«

Ja, warum eigentlich nicht? Wenn nur der Mietvertrag mit dem Bundesvermögensamt Ende April nicht ausliefe. Die Zukunft ist ungewiß. Auch die Pläne der Bewohner gehen auseinander. Einige würden lieber alleine wohnen, andere wollen endlich aus dem Zweibettzimmer raus. Und für das Geld, daß das Diakonische Werk an Miete für die 80 Bewohner zahlt, könnten sie auch in sanierten Wohnungen leben. 436 Mark pro Person kostet das Leben im altersschwachen Plattenbau.

»Mein Pappkarton war billiger«, bemerkt Thomas, 37, zynisch. »Und zentraler, in Ku'dammnähe.« Thermisch wäre so ein Pappkarton einwandfrei, sagt Thomas. Und immer die Innenseite nach oben, damit man sauber liegt. Schließlich kommt man auf Platte nicht so oft zum Waschen. Mehrere Jahre hat Thomas draußen geschlafen, überall und nirgends. Über das Warum, Wieso und Wie lange schweigt er sich weitgehend aus. »Ein Achtstundentag war nicht so mein Ding. Irgendwann hab' ich dann angefangen zu betteln«, ist alles, was man von ihm erfährt.

Petra war schon in der DDR obdachlos. Nach der Scheidung hat ihr Mann sie auf die Straße gesetzt — mit 21 Jahren. In Ost-Berlin war sie eine der wenigen Frauen, die auf Trebe waren. Auf dem Lichtenberger Hauptbahnhof hatte sie drei Jahre lang ihr Hauptquartier. »So 15, 20 Mann waren wir immer«, erzählt sie. »Aber weil es Obdachlose in der DDR ja nicht gab, haben uns ständig die Bullen mitgenommen.« Über den Seelingtreff, Charlottenburger Treffpunkt für Wohnungslose, hatte sie von der geplanten Besetzung erfahren und war sofort dabei. Demnächst will sich die gelernte Hauswirtschafterin einen Job suchen. Bis dahin, das weiß sie auch, muß ihre Sauferei zumindest tagsüber ein Ende haben. Ob sie das schaffen wird, weiß sie nicht.

Das Obdachlosenprojekt in der Rhinstraße ist in seinem Umfang in Deutschland einmalig. Die Besetzung in Berlin war die dritte ihrer Art: Jeweils 20 Leute wohnen in Köpenick und in Charlottenburg in Häusern, die sie ebenfalls nach einer gelungenen Besetzung zugewiesen bekommen haben. Alle Besetzungen gingen vom Seelingtreff aus. »Das ist einer der wenigen Orte, wo Obdachlose sich austauschen können«, sagt Kramer, der bereits die Plattengruppe in Köpenick betreut hat. Der Seelingtreff ist auch in diesem Winter wieder überfüllt. 140 Essen werden dort an manchen Mittagen an Wohnungslose abgegeben. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich die nächste Gruppe in Selbstjustiz ein leerstehendes Haus aneignet. Denn schneller können sich 80 Leute keine warme Bleibe verschaffen. Und dringender braucht sie niemand. Jeannette Goddar

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