Die Straße soll Lubitsch heißen!

■ Zum 100. Geburtstag — Ein Essay über einen, der seine Menschenliebe auf der Leinwand austobte

Endlich mal eine Nachricht, über die man sich freuen kann. Statt nach einem fetten korrupten oder einem magern eifernden oder gar einem halbfetten gleichgültigen Politiker, Wirtschaftsboß und/ oder Preußengeneral soll eine Straße genannt werden, sondern nach einem, der sich für Menschen interessiert hat. Eine Straße, in der Kinder geboren werden und Alte sterben, in der Liebesgeschichten anfangen und enden, Dreiecksgeschichten gut oder schlecht verlaufen, in der Hunde an Straßenecken pinkeln und kleine Mädchen mit Eistüten kleckern. Kleine Jungen legen Portemonnaies an Fäden aus und lachen sich tot über die, die danach grapschen. Eine Straße, in der von Reichtum und Schönheit geträumt wird, in der es Unfälle gibt und in der neue Schuhe ausgeführt werden, in der betrogene Frauen heulend die Zähne zusammenbeißen und kleine Verkäuferinnen mit Liebeskummer zur Arbeit hasten. Schüchterne Männer suchen nach Worten, mit denen sie ihrem Chef sagen können, was sie ihm schon immer sagen wollten.

Zum Lachen gebracht

Einfach eine Straße mit Menschengeschichten auf vielen Stockwerken, auf den Gehsteigen und der Fahrbahn — sie soll nach jemand genannt werden, der die Menschen nicht ausnehmen wollte, der nicht von ihnen profitierte, sie nicht benutzte. Nein, das nicht. Sondern der ihnen das beste getan hat, was man, laut Preston Sturges, dem großen amerikanischen Komödienautor, für die Menschen tun kann — sie zum Lachen zu bringen. So was läßt hoffen in diesem Land, in dem die oben genannten Politiker und andere, nach denen sonst Straßen genannt werden, die Menschen durch eine Hölle nach deren anderen gejagt haben. Ich will sie gar nicht alle nennen, die Politiker nicht und auch die andern nicht. Die Höllen, ihr kennt sie schon.

Kneipendunst

Viel zu lachen gab es da jedenfalls nicht, weder im zweiten noch im dritten noch im geteilten Reich. Und nur dieser eine, der schon zu den Frühzeiten des deutschen Films damit angefangen hat, hat die Menschen noch zum Lachen bringen können, ohne sie dabei zu verblödeln. Im übrigen war das, was in diesem Land geschah und was dieses Land auch außerhalb seiner Grenzen angerichtet hat, derart schlimm, daß man den Eindruck gewinnen konnte, ein intelligenter Mensch müßte sich selbst über den Mund fahren, bevor er zu lachen ansetzen könnte — und die, die man für die Doofen hält, könnten nur im Kneipendunst und unter der Last der entsprechenden Promille im Blut in Lachen ausbrechen. Die Filme aber, die als Kneipendunstersatz produziert werden, setzen voraus, daß der, der über sie lachen soll, seinen Verstand an der Kasse abgab.

Melancholie des Auslands

Kein Wunder dann auch, daß die Filme von dem, nach dem jetzt eine Straße genannt werden soll, immer noch eine Fan-Gemeinde der Unverblödeten haben. Dies übrigens weltweit. Denn große Kinokunst ist, wie die Musik, im Ursprung vielleicht national, in der Wirkung aber auf jeden Fall international. Deshalb hat der, nach nach dem sie jetzt eine Straße nennen wollen, mehr für Deutschland getan als alle reisenden Goodwill-Diplomaten. Möglicherweise ist der unzerstörbare Glaube an etwas Heilbares in Deutschland — andernortes angesichts des derzeiten Umgangs mit der DDR schon wieder gewaltig ins Wanken geraten — auch davon beeinflußt, daß Ernst Lubitsch in Berlin geboren ist und hier erfolgreich Filme gemacht hat. Die Melancholie des Auslands angesichts der Geschichte der DEFA hat auch damit zu tun, daß der kleine Meister hier eine Reihe seiner größten Meisterwerke schuf. Kosmopolitisch, bissig, voller Menschenliebe — zu den Kleinen, den Opfern der Geschichte, die ihr sozusagen unter die Röcke gucken dürfen, während sie ihre Monster gebiert.

Wahrheitsliebe

»Lubitsch-Touch«, werden die Wessis den Ossis jetzt zurufen, wenn die Näheres wissen wollen — ohne das Berliner Kino »Notausgang« und seine Verdienste um die Unsterblichkeit des Meisters in der eigenen Vater- und Mutterstadt zu kennen. Ja, der Lubitsch-Touch, was ist das? Wahrheitsliebe, Menschenliebe, Verzweiflung — und das alles so, daß man darüber lacht, statt zu heulen. Die Zärtlichkeit und die Unerbittlichkeit von Witzen, die sich Häftlinge in Auschwitz erzählt haben. Und die gleiche triumphierende Freude über das Leben, über den letzten kleinen Fetzen Spaß, der sich irgendwo ergattern läßt.

Couch-Geschichten

Das ist nicht das deutsche, das ist das jüdische Erbe in dem Meister, und wir können — wenn wir es besehen und uns klarmachen, wie es vertrieben wurde, zerstört, vernichtet — nur den Kopf schütteln, der uns geblieben ist. Diesen trotteligen deutschen Holzkopf des deutschen Michel, der seitdem über Paukerfilme lacht. Über Jodeln in der Lederhose, über — nun ja, Otto ist besser, Loriot auch, aber doch wohl mit Lubitsch nicht zu vergleichen. Was unterscheidet Otto von Lubitsch? Daß er keine Geschichten erzählen kann, daß er nur Gags reiht, daß er den Menschen, die da unten im Kinosaal sitzen, nichts zutraut. Und was unterscheidet Loriot von Lubitsch? Nicht nur, daß auch er keine Geschichten erzählen kann, zu allem Überfluß findet er aus seinen großbürgerlichen Sofas nicht heraus. Letzten Endes sind beide ein bißchen provinziell, gemessen an Sein oder Nichtsein, Ninotschka, Angel, aber auch an meinem Lieblingsfilm Madame Dubarry.

Die Dubarry

Der — im Ufa-Studio gleich nach dem Ersten Weltkrieg unter abenteuerlichen Umständen und mit knurrenden Mägen gedreht — ist ein Film über verführerischen Luxus, zugleich menschenliebend und unbarmherzig — der erste wirkliche Welterfolg des deutschen Kinos. Man möchte den Gremien, die bei uns über die Gelder für Filme zu entscheiden haben, diesen Film zeigen, damit sie von ein paar Richtlinien herunterkommen, die sich in ihren Köpfen gebildet haben. Nein, ein Film muß nicht arm sein, ein Film muß nicht in der Gegenwart und im eigenen Land spielen, ein Film kann luxuriös und dennoch voller scharfsinniger Klugheit die Menschen erkennen lassen — in ihrem Versagen und in ihrer Schönheit, in ihrem Lieben und Hassen und ihrer Gemeinheit. Er muß eben nur aus den Händen eines genialen Schöpfers kommen, eines vom Leben abgewiesenen Liebenden, der seine Leidenschaften auf der Leinwand austobt.

Hinterlassenschaften

»Keine Puppe, es ist nur — eine schöne Kunstfigur«, wie Brentano sagt. Eine schöne Kunstfigur und noch eine und noch eine weitere hat der kleine Meister mit der dicken Zigarre uns hinterlassen, und wir dürfen sagen: Hier ist er geboren, hat er gearbeitet, von hier kann wieder so was ausgehen. Wenn wir nur nicht noch die letzten Überreste von dem zerstörten, was — neben seinen Filmen — Lubitschs Hinterlassenschaft ist: das grandiose Know-how der Techniker und Handwerker der DEFA, deren Großväter noch mit ihm zusammengearbeitet haben. Der DDR-Mief muß weg — aber ihr Können und ihre Zusammenarbeit bleibe erhalten! Sonst wird es nie wieder einen Lubitsch geben, und wenn wir zwanzig Lubitsch-Preise aussetzen und zehn Straßen nach ihm taufen. Aber gut, daß eine Straße nach ihm genannt werden soll. Nach Leuten wie ihm sollte man Straßen nennen. Das macht Sinn. Helma Sanders-Brahms