Aussprechen des Unaussprechbaren

■ Besprechungen zur Filmreihe im Rahmen der Ausstellung »Jüdische Lebenswelten« im Gropius-Bau

Von 15. Januar bis 22. April zeigt das Arsenal im Kinosaal des Martin-Gropius-Baus jeweils von Mittwoch bis Sonntag um 20 Uhr jüdische Filme aus Polen, der UdSSR, den USA, Österreich, Israel und anderen Ländern. Ab Februar werden die Filme im Arsenal wiederholt. Jeden Mittwoch stellen wir sie hier kurz vor.

Eröffnet wird diese Woche mit Carl Theodor Dreyers Die Gezeichneten (1921), ein Film, der im zaristischen Rußland um die Jahrhundertwende zwischen einem ukrainischen schtetl und der großen Stadt Petrograd spielt. Die Jugendjahre von Hanna, einer armen Schneiderstochter, werden durch das antisemitische Klima der Zeit zur Passionsgeschichte. Dreyers mitunter etwas zweifelhaftes Interesse für das Leiden junger Frauen wird hier glücklicherweise nicht mit derselben puristischen Strenge erzählt wie einige Jahre später Die Passion der Jeanne d'Arc (1928), sondern aufgelockert von Bootsfahrten auf dem See, lüsternen Blicken, dem Wind in den Bäumen, Fischernetzen und schmunzelnden Faulpelzen. Dabei ist das Ganze keineswegs eine Verharmlosung der Lage der Juden, die in steter Erwartung der nächsten Pogrome lebten. Mit dokumentarischer Genauigkeit zeigt Dreyer, welche Deformationen diese Bedrohung in den Persönlichkeiten und den Gesichtern anrichtet: Hannas Vater zählt das bißchen Geld wieder und wieder wie ein Besessener, ihr Bruder, der assimilierte Aufsteiger, sieht immer wie ein gewaltsam Geschorener aus ohne seinen Bart; das Gesicht des Rabbi, der von den brandschatzenden Horden schließlich in den Staub gezwungen wird, ist vor Pein kaum noch zu erkennen.

Die Gezeichneten ist auch eine der ersten Darstellungen der Pogrome während des Bürgerkrieges, der en détail zeigt, was das bedeutete: wenn die Haustür kein Schutz mehr ist, das Gehegte und Gepflegte lachend zerschlagen wird, wenn nichts an der Existenz mehr sicher ist, nicht mal das bloße Leben. — Am Donnerstag abend folgt East and West (1923), mit dem Sidney M. Goldin dem Wiener Publikum seine Ghetto Rose von der Lower East Side vorstellte, die Vaudeville Lady Molly Picon, eine der komischsten Nudeln, die je auf der Leinwand zu sehen waren. Hier spielt sie die Tochter eines amerikanischen Allrightniks, der seinen Dickwanst zu einer Familienhochzeit in sein altes galizisches Dorf zurückschiebt. Molly Darling legt dort mit rollenden Augen und flapsigen Grimassen den belockten Jeschiwe-Studenten einen Shimmy auf den Tisch, daß denen Hören und Sehen vergeht. Der gestrengen Dickmamsell pellt sie eine mit dem Boxhandschuh und ist überhaupt dermaßen dynamisches Amerika, daß man sich fragt, wie sie jemals unter die Haube kommen soll. Daß sie schließlich doch einen der Studenten heiratet, liegt nur daran, daß der sich in Wien die Schläfenlocken abgeschnitten und sich brav assimiliert hat. Obwohl der Film eindeutig zwischen Alter und Neuer Welt vermitteln will, liegt die Zukunft doch im Westen.

Ein anderes Kaliber ist Motl Peysi dem Chasns (Lachen durch Tränen, UdSSR 1928), in dem Gritscher- Tscherikower, ein mit Theateradaptionen erfahrener Regisseur, zwei Figuren Sholem Aleichems in einem Dorf unterbringt: den verzückten Schneider Shimen-Elye, der, von seiner Frau getriezt, eine Ziege kauft, die auf mysteriöse Weise das Geschlecht wechselt und dann eben keine Milch mehr gibt, und dem kleinen Motl, der gleich zu Beginn des Films verwaist und dadurch für die Immigration in die Lower East Side prädestiniert ist. Zu diesem Zeitpunkt gefiel es Stalin noch, Antisemitismus als konterrevolutionär zu brandmarken. Deshalb stellt der Film die Armut und den Mangel an Bildung dar, der im schtetl herrschte, schießt aber in seiner Diskreditierung der Orthodoxie weit über Aleichems liebevolle Distanz hinaus.

Samstag und Sonntag sind Claude Lanzmanns Shoah (Frankreich, 1974-85) gewidmet (jeweils 17 Uhr). Der Einfachheit halber wird dieser Film immer wieder als Dokumentarfilm bezeichnet, weil er — wenn man es unzulässig verkürzt — aus Interviews mit Nazis, Überlebenden, Augenzeugen und Außenaufnahmen der Konzentrationslager Chelmno, Sobobor, Treblinka und Auschwitz besteht. »Dokumentarfilm« trifft es aber nicht, weil das Thema dieses Films eben die Tatsache ist, daß sich die Vernichtung, das Grauen und das, was sich hinter dem juristischen Terminus »Verbrechen an der Menschlichkeit« verbirgt, eben nicht zeigen lassen.

Shoah ist vor allem ein Film über das Problem der Repräsentation. Vorstellung des Unvorstellbaren, Erinnerung des nicht Erinnerbaren, Aussprechen des Unaussprechbaren. Und er ist in seiner Lösung dieses Problems ein Kunstwerk von differenziertester Struktur und düsterster Schönheit geworden. Wie der Film als Ganzes eine Kreisbewegung vollzieht, so fährt auch in Einzelaufnahmen die Kamera mit kreisenden, suchenden Bewegungen über das Gras, das über den Weg zur Gaskammer in Chelmno gewachsen ist. »Ja, das ist der Platz«, sagt einer der beiden letzten Überlebenden des Lagers zu Lanzmann und zeigt auf eine Stelle, an der nichts zu sehen ist. Gar nichts. Der Schrecken entsteht so durch die Vorstellung im Kopf jedes einzelnen und nicht durch hineingewürgte Archivaufnahmen. Das Vergangene wird vergegenwärtigt, indem die Beteiligten nachspielen, was sie erlebt haben. Lanzmann ist dabei oft grausam, will alle Details wissen, auch die Techniken der Vernichtung. Gleichzeitig nimmt das Schweigen in diesem Film genausoviel Raum ein wie die Worte. Weil er noch sehr viele andere Fragen untersucht (beispielsweise den polnischen Antisemitismus) muß dieser Film die Länge haben, die er hat (zweimal über sechs Stunden). Die Frage, ob man sich dem aussetzen soll, darf nicht mit moralischer Entrüstung bejaht werden. Man muß sich schon darüber im klaren sein, daß man diesen Film — wie keinen anderen — allein sieht. Miriam Niroumand