Letten — Minderheit im eigenen Lande?

Auch der „baltische Weg“ könnte in die Krise führen, wenn die Nationalitäten- zur Schicksalsfrage hochstilisiert würde  ■ Von Roberts Berzins

Der Versuch, die Frage der nationalen Minderheiten in Lettland in das gängige Problemraster einzupassen, will nicht so recht gelingen. Einerseits stellten Letten auch in ihrer ersten unabhängigen Republik zwischen 1918 und 1940 nie mehr als 75,7 Prozent der Bevölkerung. Eine für damalige Verhältnisse in Europa beispielhaft liberale Minderheitenpolitik trug diesem Umstand Rechnung: Die kulturelle Autonomie von nationalen Minderheiten wurde durch großzügige staatliche Förderung sichergestellt. Nicht nur Kultur- und Bildungseinrichtungen der deutschen oder der jüdischen Volksgruppe in der Hauptstadt Riga belegen dies, selbst die 13.000 Einwohner zählende Kreisstadt Rezekne in der ostlettischen Provinz konnte damals neben einem lettischen auch ein polnisches und ein russisches Gymnasium vorweisen.

Die politische Integration der Minderheiten hingegen erfolgte auf strikt demokratischer Grundlage: Alle Personen, die die Kriterien für die Erlangung der lettischen Staatsangehörigkeit erfüllten, konnten ohne Rücksicht auf ihre Nationalität Bürger der Republik werden und aktiv und passiv am politischen Leben teilnehmen. Da es jedoch keine größeren geschlossenen Siedlungsgebiete von Minderheiten gab, waren hinsichtlich ihrer parlamentarischen Repräsentanz allenfalls Ansätze zu verzeichnen, die sich überdies mit parteipolitischen und ökonomischen Zielsetzungen überschnitten.

Der Anteil der Letten an der Gesamtbevölkerung der Baltenrepublik verringerte sich in den Jahren der sowjetischen Besatzung vor allem infolge einer unkontrollierten Einwanderung auf zirka 52 Prozent, in Riga sank er sogar auf 35 Prozent (1985). Einige Anzeichen sprechen dafür, daß die Letten heute bereits eine Minderheit im eigenen Lande geworden sind. Dieses Erbe der sowjetischen Herrschaft ist notgedrungen Bezugspunkt aller Diskussionen über eine künftige Nationalitätenpolitik im wieder unabhängigen Lettland mit seinen etwa 2,7 Millionen Einwohnern (darunter 830.000 Russen).

Wie ein vom Rigaer Parlament am 19. März 1991 verabschiedetes Gesetz belegt, knüpft die Baltenrepublik im Bereich der kulturellen Autonomie für nichtlettische Minoritäten an das Konzept der Vorkriegsjahre an. Mehr noch: Sie hat damit die Voraussetzung für die Entstehung nationaler Identitäten im amorphen russischsprachigen Bevölkerungsteil geschaffen. Da die sowjetische Politik alle Nichtletten— gleich welcher Nationalität — insgeheim den Russen „zugeschlagen“ hat, gab es 1988 in Lettland 129 allgemeinbildende Schulen mit Russisch als einziger Unterrichtssprache, jedoch keine einzige, auf deren Lehrplan Weißrussisch oder Ukrainisch gestanden hätte. Anders hingegen heute: schon im September 1989 nahm in Riga eine jüdische Schule ihren Betrieb auf, die ersten Klassen mit Unterricht in anderen Sprachen der Nationen der ehemaligen UdSSR sind ihr seitdem gefolgt.

Gegenstand heftigster Kontroversen ist jedoch die Frage geworden, wie die politische Integration der nichtlettischen Bevölkerungsgruppen aussehen soll. Konkret: Wer von den Einwohnern des Landes qua Staatsangehörigkeit berechtigt sein wird, aktiv und passiv an den Wahlen zum neuen Rigaer Parlament teilzunehmen. Das entsprechende Gesetz, das noch zur endgültigen Verabschiedung ansteht, verweigert sowjetischen Armeeangehörigen und Militärpensionären die lettische Staatsangehörigkeit und sieht für die Einbürgerung von anderen Nichtletten relativ strenge Auflagen vor. Verlangt werden unter anderem umgangsprachliche Lettischkenntnisse und ein vorausgegangener sechzehnjähriger Aufenthalt in der Baltenrepublik.

Nationalkonservative Gruppierungen brandmarken die Vorlage als Verrat am lettischen Volk, radikale Interessenvertreter der russischsprachigen Bevölkerung hingegen als eine Verletzung von Menschenrechten.

Freilich existieren jenseits des politischen Getöses auch tolerantere Positionen. So erklärte eine Delegierte auf dem Kongreß der Volksfront Lettlands im November in einem persönlichen Gespräch, sie würde aus prinzipiellen Erwägungen ein Referendum ablehnen, in dem die Bürger Lettlands dazu befragt werden, ob der Kreis der Stimmberechtigten für die kommenden Wahlen erweitert werden solle; käme es dennoch zu einem solchen Referendum, würde sie allerdings für eine Erweiterung stimmen. Umgekehrt zeigt eine jüngst durchgeführte Erhebung unter Russen in Lettland, daß zwei Drittel von ihnen die lettische Staatsangehörigkeit erlangen wollen und ebenso viele die Unabhängigkeit der Baltenrepublik unterstützen.

Die eigentliche Gefahr, die von der Nationalitätenfrage in Lettland ausgeht, scheint darin zu liegen, daß sie als ein Emotionen bindendes Vehikel für machtpolitische Kämpfe mißbraucht wird. Denkbar wäre nämlich eine Situation, in der extreme Kräfte auf beiden Seiten sie zur angeblichen Schicksalsfrage hochputschen — ohne auch nur einen einzigen konkreten Vorschlag zur Lösung der schweren sozialen und wirtschaftlichen Probleme in der Baltenrepublik anbieten zu müssen. Dies wiederum könnte den jungen Staat in eine Krise stürzen, die jenen Grundkonsens zwischen den verschiedenen Volksgruppen, der den „baltischen Weg“ bisher gekennzeichnet hat, ernsthaft gefährden und einen explosiven Nationalitätenkonflikt herbeiführen würde.