Kagel. Homme. Age. 60

Mauricio Kagel hatte Geburtstag, Köln feierte ihn. Mit Neuer Musik.  ■ Von Frieder Reininghaus

Die Vielfalt der Neigungen und Betätigungsfelder hat sich Mauricio Kagel aus der Kinderzeit erhalten. Der Enkel deutsch-russischer Einwanderer jüdischen Glaubens in Argentinien begann um 1950 mit dem Komponieren. Er korrepetierte am Teatro Colón in Buenos Aires, studierte Literatur (unter anderem bei Jorge Luis Borges) und beschäftigte sich mit Spinoza. Darüber hinaus schrieb er Film- und Fotokritiken und gehört zu den Mitbegründern der Cinémathèque Argentine. 1957 kam er nach Köln — und blieb dort. Am letzten Tag des alten Jahres wurde er 60.

Der Wechsel der Hemisphären, der Kulturkreise und des Sprachraums hat sich der Arbeit Kagels eingeschrieben. Neuerdings reflektiert er offenbar die Kindheitsmuster, Fragen der Herkunft, die für lange Zeit in den Hintergrund getreten waren gegenüber den Assimilierungs- und Profilierungsbemühungen. Die oratorischen Liturgien, 1989 in Köln uraufgeführt, thematisieren die simultane Präsenz konkurrierender Religionen und Konfessionen, zugleich auch die Frage nach dem einen „Gott der Väter“. Die neuen Stücke der Windrose, von denen bislang vier vorliegen (und zwei in Köln uraufgeführt wurden), nehmen den Ort der Kindheit als Mittelpunkt der Kompaßrose. Von dort aus begeben sie sich auf „verzwickte Erkundung“, wie es im Programmheft heißt.

So erscheint der Süden kalt — patagonisch und feuerländisch, der Norden heiß. Der Osten imaginiert eine Eisenbahnreise vergangener Tage in der vierten Klasse, irgendwo zwischen „Kischinjew und Iwano- Frankowsk, Balassagyarmat und Hódmezövásárhely, Kamenez-Podolski und Piotrków Trybunalski“. Absichtsvoll kehrt die Musik nostalgische Züge hervor, wirkt wie ein Pendant zu vergilbten Fotos. Ihre Tonalität erscheint so selbstverständlich wie — gegebenenfalls — deren Suspendierung. Das leidige Problem der Denkverbote bezüglich der wieder heim ins Reich der künstlerischen Möglichkeiten geholten Tonalität scheint ausgestanden. Spätestens durch diese neuen Kagel- Stücke ist sie wieder salonorchesterfähig.

Eine Kunst der Zwischentöne führt der Nordosten vor. Kagel assoziiert bei dieser Himmelsrichtung Brasilien und dessen vielfältige Musikkultur. Die Pluralität der Stile weist „in eine typisch unscharfe Richtung“, ohne daß freilich der Kagelsche Tonsatz die Würze verliert. Ein altes Versprechen an einen kubanischen Schriftsteller habe er einzulösen gehabt: eine musikalische Reflexion über Südamerika zu komponieren. Das ist nun mit dieser an (Quasi-)Zitaten reichen Musik geschehen, vor allem auch mit der zum Nordwesten, in der sich „eine imaginäre Indioprozession dem Konzertpodium nähert“ — im Nordwesten des angenommenen Standpunkts liegen die Anden.

Kagel huldigt einer „lupenreinen Polypentatonik“, erschuf wieder einmal ein musikalisches Ritual mit diskret-ironischen Rändern. Ein wenig vermeinte ich die nach Europa exportierte und über die Domplatte oder sonstwo durch die Fußgängerzonen gezogene Indio-Folklore parodiert zu hören, eine „Volkskunst“, die meiner Erfahrung nach am allerechtesten in den Hotelrestaurants von Colombo auf Sri Lanka zu vernehmen ist.

Zum 50. Geburtstag hatte sich Kagel das Orchesterwerk Finale vorgenommen — einen klanggewordenen Bericht vom Herzflattern und anderen Beklemmungszuständen, an dessen Ende der Dirigent in die Knie, schließlich höchst theatralisch vor die Hunde geht (auch auf Drängen seiner Musiker soll er nicht eher aufstehen, als bis der letzte Gaffer den Saal verlassen hat). Diese maliziöse Pièce brachte der Dirigent Kagel jetzt — eingerahmt von den Zehn Märschen, um den Sieg zu verfehlen — erneut zu Gehör. In die gleiche Richtung wiesen die Wiederaufführungen von Les idées fixes und Opus 1.991: Auch diese Orchesterwerke sollten in Erinnerung rufen, wie sehr Mauricio Kagel sich streckenweise zur „autonomen Kunst“ bekehrte, wie konsequent er die unterschiedlichsten Schreibweisen und musikalischen Denkansätze pflegt. In dieser radikalen Vielseitigkeit und Arbeitslogik ist er mit dem großen Kölner Maler Gerhard Richter zu vergleichen. Kagel, der Sammler in den Gefilden der historischen wie der „exotischen“ Musik-Welten, setzt immer und immer wieder bei geschichtlich „besetztem“ Material an und prüft es auf seine ästhetische Tragfähigkeit hin. Aus dem scheinbar Eindeutigen entsteht durch seine Montage- und Verarbeitungstechniken jene Vieldeutigkeit, die einen fasziniert, andere ratlos macht oder verärgert. Zum Nachdenken zwingt er beide.

Auch zu seinem 60. Wiegenfest steuerte der Meister ein grundsätzlich konzipiertes Musikstück bei, das auf der Achse Köln-Buenos Aires angesiedelt ist und zunächst einmal am 24.Dezember 1931 spielt. Unter diesem Datum, seinem Geburtstag, sah Kagel in den Kölner Zeitungsarchiven nach: Aus einigen Meldungen montiert er schließlich einen Text, der das Menschheitsbewegende und das Zufällige an diesem Heiligen Abend auf sieben Punkte brachte. Kagel gedachte der politischen Unterdrückung in seiner alten Heimat, die sich in einer Gefängnisrevolte entlud (vor Weihnachten 1931 wurde sie mit Maschinengewehren und Gasgranaten beendet). Desweiteren erinnerte er an die japanischen Massaker in der Mandschurei, an den Vormarsch der Nazis in allen gesellschaftlichen Zonen Deutschlands, an einen Deckeneinsturz in der Vatikanischen Bibliothek (fünf Todesopfer) und an die völkerverbindende Wirkung des Telefons: Die nordamerikanischen Kirchenglocken wurden von Palästina aus per Fernbedienung in Bewegung gesetzt.

Diese bizarre Nachricht veranlaßte ihn, seinen sieben Charakterstücken einen glockendröhnenden Schluß zukommen zu lassen und mit diesem alle Christkinder und Weihnachtsmänner neckisch-pathetisch zu feiern. Die „verstümmelte Nachricht“ über die psychische Befindlichkeit eines in den Wirtschaftskrisenjahren nach Argentinien emigrierten Kölners wird damit gewaltig übertönt. Die Spannung freilich zwischen den stilleren Momenten dieser Gesellschaftsmusik und den grellen ist enorm. Während im vierten Stück der Bariton Roland Hermann mit fistelnder Stimme die Werbesprüche für die von Nationalsozialisten bevorzugte Zigarette Marke „Parole“ herunterhaspelt, steigt der Schlagzeuger des „Ensemble Modern“ mit den Fäusten in ein Paar Reitstiefel — sein Knobelbechertreten sagt als theatralische Aktion womöglich mehr als tausend Worte.

Durch ein Fest der Neuen Musik unter dem Motto „Homme: Age 60“, das neun Freunde des Meisters mit neuen Stücken schmückten, holte Köln Mitte Januar die zu Heiligabend bereits fällige große Kagel-Ehrung nach. Von John Cage wurde eine leise gehaltene Kleinigkeit uraufgeführt, von Earle Brown (und unter dessen Leitung) ein unverdrossen serialistisches, aber durchaus klangspannungsreiches Oh!K.. Wolfgang Rihm deutete mit Violone, Violoncello und Akkordeon einen dünnen Silberstreif am Horizont an. Vinko Globokar ließ, immer noch musik- aktionistisch gestimmt, sechs Cellisten Freunde sein: Sie packten sich jeweils mit der linken Hand an der rechten Schulter und schlossen so den Kreis — die rechten Hände konnten nur die leeren Saiten streichen (oder zupfen). Da diese aber gegeneinander verstimmt wurden, stand dem Kollektiv dann doch eine vollständige chromatische Tonleiter zu Gebote (die für Globokars einfallslose Musik allerdings kaum umfassend beansprucht wurde).

Der Kölner Komponist Johannes Fritsch verwies auf die unermüdliche Arbeitsintensität des Geehrten. Sechs Kompositionsschüler Kagels stellten auf höchst unterschiedliche Weise die schulbildende Wirkung des Künstlers (und deren Grenzen) vor. Neun der von Kagel produzierten elf Hörspiele wurden vom WDR wieder aufgeführt, ein Verschnitt aus seinen 17 Filmen, von Thomas Klees realisiert. Ein Gesamthochschullehrer aus Siegen, seit Jahren rührig in Sachen Kagel (und auch jetzt in Köln stark mit Rühmen und Moderieren beschäftigt), edierte die Festschrift und arrangierte im Foyer der Philharmonie eine Ausstellung mit Partitur- und Titelseiten, die zeigt, wie breit gewachsen Kagels Oeuvre längst ist.

György Ligeti brachte ein Geburtstagsgeschenk mit, das er ohnedies gerade (im Auftrag der Stadt Gütersloh) gebastelt hatte: Die Etude9, Vertige, für Klavier. Da Volker Banfield sie noch nicht in dem von Ligeti geforderten Tempo absolvieren konnte, wurde das Prestissimo dem Pianola anvertraut: Die Impulse kamen von der Walze (der kleine Brillant Vertige ist dennoch eine große Aufmerksamkeit für den Freund; bei Präsenten ist ja wirklich nicht die räumliche Größe entscheidend). Und noch ein anderes Geschenk mag die Nachdenklichkeit Kagels, des notorischen Nachdenklichkeitsstifters wie auch das Nachdenken über Kagel selbst geschärft haben: Clap von Luc Ferrari aus Paris. „Ich habe die Freiheit nie gekannt“, hatte Kagel Ende der fünfziger Jahre in einem Gespräch mit Ferrari geäußert. Das griff dieser in seiner Hommage à Kagel wieder auf.

Musikwissenschaftler späterer Generationen mögen sich die Köpfe darüber zerbrechen, ob und wie Kagel der Lebens- und Arbeitsperspektive, mit der er nach Europa kam, treu geblieben ist. Jedenfalls, und das darf in dieser Zwischenbilanz eines großen Schaffensstroms festgehalten werden, hat er häufig dafür gesorgt, „daß dem Publikum nicht die Zeit vergeudet wird“. Kagel, der Meister der dialektisch umbrochenen Traditionen, hat hohen und echten Unterhaltungswert. Und das darf in heutiger Zeit als eines der verbindlichsten ästhetischen Qualitätsmerkmale angesehen werden.