INTERVIEW
: Algerien: Bürgerkrieg oder Solidarność-Lösung?

■ Der französische Islamforscher Bruno Etienne über Islam und linke Ignoranz und über Algeriens Perspektiven nach dem Staatsstreich

Bruno Etienne: Lassen Sie mich die Eröffnung machen. Wir gewinnen Zeit, wenn wir gleich drei Lügen und Mißverständnisse ausräumen. Erstens stehen wir in Algerien vor einem Staatsstreich und nicht, wie man uns weismachen will, vor einer „verfassungsmäßigen Aktion zur Rettung der Demokratie“. Der Coup von Algier hat den ganzen Maghreb in eine brandgefährliche Situation gestürzt.

Zweitens hat nicht die Armee geputscht — sie hält die Macht seit drei Jahrzehnten — sondern der militärisch-industrielle Komplex: ein kleiner Unterschied. Die Kapitalisten- Generäle fürchteten um ihre wirtschaftlich dominierende Stellung und um ihre Privilegien.

Drittens sagt man uns, das algerische Volk sei nicht reif für die Demokratie. Das sind die alten Kolonialphrasen. In Algerien hat die FLN (ehem. Staatspartei) die Demokratie getötet. Wir wissen, daß Unterentwicklung Diktatur produziert. Aber es gilt auch umgekehrt: Diktatur produziert Unterentwicklung. Algerien ist ein gutes Beispiel.

In Algerien gab es immer Formen nichtparlamentarischer, tribaler Demokratie. Selbst unter den französischen Kolonialherren haben die AlgerierInnen gewählt, wenn auch unter Einschränkungen und für ein Pseudoparlament. Im Widerstand gab es Demokratie, insbesondere unter Einschluß der Frauen. Und was ist, wenn heute der „Majlis En- Schura“, der Rat der Islamisten, die normale Form algerischer Demokratie wäre?

taz: Sie waren vom Wahlsieg der Islamisten nicht überrascht — im Gegensatz zu den Generälen, die glaubten, die Islamische Heilsfront FIS erschüttert zu haben.

Unsere Forschungsarbeit in Aix zeigt seit Jahren, daß die Islamisten die dominierende gesellschaftliche Kraft in Algerien geworden sind. Und wir sagen, daß es dafür gute Gründe gibt. Das wurde uns lange vorgeworfen; man hat unsere Analyse mit einer Parteinahme verwechselt. Was mich an den Wahlen aber erstaunt hat, war die hohe Stimmenthaltung. Sie zeigt zum einen, wie desillusioniert die AlgerierInnen gegenüber ihrer politischen Klasse sind. Zum anderen sind offenbar viele unserer linken Freunde nicht zur Urne gegangen, weil sie gedacht haben, die FLN werde die Wahlen einmal mehr gegen die Islamisten manipulieren. Unsere Freunde waren in Zeralda oder Paris, um Neujahr zu feiern — eine totale Inkohärenz. Sie wissen nicht mehr, was ein Algerier ist. Ich glaube, daß ein Gutteil der algerischen Linken immer noch nicht erkannt hat, was die FIS ausmacht.

Bleiben wir einen Moment bei den „guten Gründen“, die bewirkt haben, daß sich heute eine Mehrheit in den Islamisten erkennt. Da ist einmal die verheerende Wirtschaftslage: hohe Arbeitslosigkeit, explodierende Preise, zerfallendes Sozialsystem...

Das alles spielt eine Rolle. Der junge Algerier findet trotz guter Ausbildung keinen Job, lebt mit zehn oder 15 Personen in zwei Räumen, steht morgens um vier Uhr auf, um die Wasserkanister zu füllen, kämpft stundenlang um ein wenig Fleisch und Gemüse, kann sich kein „morgen“ vorstellen und hat vor allem keinen Grund zur Hoffnung, daß sich das zum Guten wenden könnte. Aber die verbreitete These, die FIS ziehe ihren Zulauf aus dem „Lumpenproletariat“, greift viel zu kurz. Fast alle FIS-Kandidaten haben Hochschulabschluß. Es sind die „Frustrierten der Arabisierung“.

Im Zulauf der Islamisten steckt ein starkes identitäres Moment. Die Identitätsfindung ist der Humus, auf dem der Islamismus wächst. Vor dem Konkurs der Entwicklungshoffnungen und den Niederlagen des arabischen Nationalismus bietet der radikale Islamismus eine messianische, revolutionäre und universelle Alternative an — gegen die okzidentale Hegemonie. Er ist konkrete Hoffnung. Das ist seine Stärke. Das erklärt auch, warum man diesen Leuten einen Gefallen tut, wenn man sie in den Knast wirf. Das Regime hat den FIS-Wahlsieg mit seiner Repression im letzten Juni vorbereitet.

Die Militärjunta will jetzt einen schnellen wirtschaftlichen Aufschwung und dann die langsame Demokratisierung, ohne die Interessen des militärisch-industriellen Komplexes zu gefährden. Kann sie das schaffen?

Nein. Das ist kaum zu machen. Die Außenschuld ist bei 25 Milliarden Dollar, das Barrel Öl bei 17 Dollar und der Dollar auf niedrigerem Stand. Die Islamisten sagen: Gott kennt den Lauf der Zeit, ihr nicht. Interessant, daß ausgerechnet Premierminister Sid Ahmed Ghozali das Wirtschaftswunder bewerkstelligen soll — es war Ghozalis Erdölpolitik in den 70er Jahren, die Algerien in die katastrophale Lage geführt hat. Der IWF wird Algerien nicht helfen. Schaut man genau hin, sind die Islamisten-Revolten in Wirklichkeit IWF-Revolten.

Das Regime hat wenig Spielraum. Niemand will arbeiten, wozu auch? Es gibt keine Perspektive. Drei Viertel sind nach der Unabhängigkeit geboren, geben also Mohammed Boudiaf, dem Präsidenten des neuen „Hohen Staatskomitees“, und der Armee wenig Kredit. 70 Prozent haben nichts zu beißen, also auch nichts zu verlieren. Dazu kommen die komplexen Kräfteverhältnisse innerhalb der Nomenklatura, die bremsend wirken. Die herrschenden Klans haben den Staat nicht nur geplündert, sondern aufgekauft und aufgeteilt.

Also droht der Bürgerkrieg?

Wenn man sehr optimistisch sein will, kann man hoffen, daß die Armee ihre politische Macht in sieben bis acht Monaten zur Verfügung stellt und den Taleb Brahimi (ehem. Minister) zu ihrem Kandidaten macht, weil Brahimi die Synthese von Reform-Islam und Nomenklatura darstellt.

Die harte Repression dieser Tage spricht nicht dafür. Mein Szenario ist pessimistischer. Der militärisch-industrielle Komplex glaubt irrigerweise, Algerien ohne die Islamisten regieren zu können. Er strebt die Zerschlagung und das Verbot der FIS an. Der rabiate Abbruch des demokratischen Prozesses stärkt die radikalen Kräfte in der FIS. Sie werden mit Banderillas beginnen, kleinen Attacken mit dem Messer. Die Armee wird hart zuschlagen: Blutbad, Eskalationsspirale, automatische Waffen, Sprengstoff, Stadtguerilla, islamischer Maquis auf dem Land. Ganze Regionen in der Insurrektion. Und — kroatisches Drehbuch — die Kabylei geht unter Ait Ahmed in die Sezession.

Die Frage ist dann, ob die Armee auf die AlgerierInnen schießt. Wir kennen die Obristen und Generäle. Vom Hauptmann an runter wissen wir nicht, wieweit die Islamisten die Armee schon infiltriert haben. Ich gehe davon aus, daß es in den unteren Rängen viel Sympathie für die FIS gibt. Im Iran haben wir gesehen, wie schnell auch eine privilegierte und guttrainierte Armee zerfällt. Die gesellschaftlichen Kosten wären auch bei einer geglückten Repression zu hoch, das Land auf Jahrzehnte in Unruhe, der wirtschaftliche Aufschwung Illusion.

Den einzigen halbfriedlichen Ausgang böte der historische Kompromiß — der islamisch-kapitalistische Maghreb, wie ihn Saudi-Arabien und dahinter die USA und Frankreich wollen: Die FIS übernimmt den Bazar und die moralische Ordnung. Es ist die Solidarność-Formel: Die Islamisten bringen die Leute zur Arbeit zurück, und der kapitalistische Kern bleibt beim militärisch-industriellen Komplex. Frankreich verhandelt schon erfolgreich den Rückkauf der algerischen Erdölfelder.

Unterm Strich könnte man sagen: Die Islamische Republik ist ein unausweichlicher Übergang?

Das wird Ihnen der Politologe Etienne nie laut mit „ja“ beantworten. Aber wenn man alles abwägt, ist das der logische Schluß. Interview: Oliver Fahrni

Bruno Etienne ist Arabist und Professor für Politologie in Aix-en-Provence und Istanbul und hat lange in Algerien gelebt.