Die FLN debattiert ihre Auflösung

Politbüro der alten Einheitspartei Algeriens zurückgetreten/ Die Befreiungsfront soll auf die Linie des Militärs gezwungen werden/ Blumige Glückwünsche an die Armee/ Monatelange Agonie  ■ Von Oliver Fahrni

Während Algier den Atem anhält unter der Bleikappe der „Sécurité militaire“, bereitet sich draußen, an den Gestaden des „Club des Pins“, die alte Einheitspartei FLN ein Begräbnis erster Klasse. Ein letztes Privileg. Leicht erhöht über den Nomenklatura-Villen, wo die FLN-Kader ihre Geliebten zum Pläsir hinbrachten, liegt, protzig gelagert, der „Palast der Nationen“. Manche der Prestige-Limousinen auf dem Parkplatz sind nicht mehr taufrisch. Premier Ghozalis Anhänger haben eine außerordentliche Sitzung des FLN- Zentralkomitees erwirkt. Die Befreiungsfront sollte auf die Linie der Militärjunta General Nezzars gezwungen und/oder aufgelöst werden. FLN-Generalsekretär Abdelhamid Mehri und, hinter ihm, der im Juni entmachtete Premier Mouloud Hamrouche hatten den Putsch verurteilt und Fühlung mit den Islamisten von der FIS und den sozialdemokratischen Kabylen von der FFS aufgenommen. Durch 30 Jahre Machtausübung diskreditiert und bei den Wahlen Ende Dezember gebeutelt, suchte sich die FLN durch die abweichende Haltung eine neue Jungfräulichkeit zu verschaffen.

Samstag begannen die Nächte der verbalen Abrechnungen. Die Debatten, immer kurz vor der Handgreiflichkeit, waren stürmisch, gehässig, selbstzerfleischend. Nach einer langen Rechtfertigungsrede Mehris schütteten bis in den Morgen hinein 90 Redner ihr aufgestautes Gift aus drei Jahrzehnten Kampf der Clans über die Versammlung. Keiner redete über die Zukunft der FLN. Die Befreiungsfront scheint keine mehr zu haben. Und immer wieder die Feststellung: „Zum ersten Mal steht die FLN nicht auf der Seite der Armee“ und: „Wir sind von der Machtausübung ausgeschlossen.“

Schnell ward klar, daß Ghozalis „Normalisierung“ der Partei glücken mußte. Der frühere Innenminister El Hadi Khediri, zur Zeit Botschafter in Tunesien, forderte in einem vibrierenden Appell die Absetzung Mehris und die bedingungslose Unterstützung der Junta. In der Versammlung zirkulierte ein Resolutionsentwurf, in dem die Armee für den Abbruch des demokratischen Prozesses in blumigen Worten beglückwünscht und der „liebe Bruder“ Boudiaf, „dieser Gründer unserer Partei“, gefeiert wurde. Interims-Staatspräsident Mohammed Boudiaf, FLN-Karte Nummer 001, 1962 von Ben Bella zum Tode verurteilt und ins Exil entlassen, galt bis vor seiner Rückkehr vorvergangene Woche als „Verräter“ und „trotzkistischer Abweichler“. Montag spät, es ging auf die dritte Nacht zu, zog Mehri die Konsequenzen und gab den Rücktritt des fünfköpfigen Politbüros, der Generalsekretär eingeschlossen, bekannt.

Gestern trat die Versammlung nochmals zusammen. Eine Petition mit 105 Unterschriften forderte Mehri auf, zu bleiben. Zu spät. Der einzige Diskussionspunkt war: die Auflösung der FLN.

Junta-Chef Khaled Nezzar möchte den Tod der Befreiungsfront. Er erhofft sich von der Meucheltat eine neue Legitimität. Den Start zum Halali gab Parteigründer Boudiaf: „Die FLN hat das Vertrauen des Volkes verloren und ist zu einem Instrument der Macht verkommen.“ Er muß es wissen. Premierminister Sid Ahmed Ghozali scheint eher geneigt, die auf Linie gebrachte FLN vorerst am Leben zu halten, zum Beispiel mit einem Generalsekretär Bouteflika, dem früheren Außenminister Boumedienes. Ghozali denkt, daß die Junta auf Dauer ein politisches Instrument braucht. Die FLN ist der letzte Übergang zwischen einer islamistisch dominierten Zivilgesellschaft und der Macht.

Die Agonie der alten Einheitspartei dauert schon Monate. Sie hatte Stück um Stück ihre Doppelfunktion verloren: Kontrolle der Massenorganisationen (zum Beispiel der Einheitsgewerkschaft) und zugleich Ort des Ausgleichs zwischen den widersprüchlichen Interessen der Clans, die sich den algerischen Staat und seine Schätze aufgeteilt hatten. Nach der Hungerrevolte vom Oktober 1988 ließ sich in der Befreiungsfront keine Einigkeit mehr über den richtigen Weg erzielen.

Präsident Chadli Bendjedid und sein Premier Ghozali trieben eine schnelle Liberalisierungspolitik voran und kamen mit dem Internationalen Währungsfonds zu einem Geheimabkommen. FLN-Chef Mehri sah darin das Ende der revolutionären Errungenschaften und die Preisgabe der algerischen Souveränität. Dahinter verbarg sich aber auch die Verteidigung der Privilegien des konservativen Flügels der Nomenklatura.

Zum offenen Streit kam es Mitte 1991, als das FLN-Parlament dem Premier ein neues Wahlgesetz verweigerte. Kurz darauf machte die Partei Opposition gegen Ghozalis Projekt, die Erdölerträge langfristig an die westlichen Konzerne zu verpachten. In der FLN wurden zunehmend Stimmen laut, mit den Islamisten ins Gespräch zu kommen. Als Anfang des Jahres auch Chadli Bendjedid zu einer „Kohabitation“ mit der Wahlsiegerin FIS neigte, entschloß sich der militärisch-industrielle Komplex hinter Nezzar und Ghozali zum Staatsstreich.