Nachtarbeitsverbot für Frauen gekippt

■ Das Bundesverfassungsgericht sah darin einen Verstoß gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau/ Urteil: Nächtliche Arbeit ist für alle schädlich / Gesetzgeber muß Nachtarbeit neu regeln

Karlsruhe/Berlin (ap/taz) — Das Verbot von Nachtarbeit für Arbeiterinnen verstößt gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau und ist deshalb verfassungswidrig. Mit dieser Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gestern eine über 50 Jahre alte Bestimmung der Arbeitszeitordnung aufgehoben, die Arbeiterinnen eine nächtliche Tätigkeit untersagt, weiblichen Angestellten und Männern dagegen erlaubt.

Nach dem Urteil der Verfassungsrichter sollen Verstöße gegen das Nachtarbeitsverbot in Zukunft nicht mehr geahndet werden. Bisher standen auf ungesetzlicher Nachtarbeit 5.000 Mark Bußgeld. Gleichzeitig formulierten die Karlsruher Richter einen Auftrag an den Gesetzgeber, eine generelle gesetzliche Regelung zur Nachtarbeit zu erarbeiten, durch die alle ArbeitnehmerInnen vor den gesundheitlichen Schäden geschützt werden.

Angleichung an EG-Recht

Mit dem gestrigen, einstimmig gefällten Urteil entsprach der Erste Senat unter dem Vorsitz von Gerichtspräsident Roman Herzog den Anforderungen der Europäischen Gemeinschaft. Der Europäische Gerichtshof hatte im Juli vergangenen Jahres entschieden, daß die Nachtarbeit für Frauen nicht verboten werden darf, wenn sie nicht gleichzeitig auch den Männern untersagt wird. Das Bundesarbeitsministerium hatte in der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe bereits angekündigt, das Verbot der Nachtarbeit für Arbeiterinnen mit Blick auf die EG-Normen durch eine generelle, geschlechtsneutrale Regelung ersetzen zu wollen.

Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts widerspricht die bisher gültige Bestimmung nicht nur dem verfassungsmäßigen Gleichberechtigungsgrundsatz, sondern auch der Verfassungsnorm, daß alle Menschen, also z. B. Arbeiterinnen und Angestellte, vor dem Gesetz gleich sind.

Der Gleichberechtigungsgrundsatz sei auch ein Auftrag an den Gesetzgeber, „für die Zukunft die Gleichberechtigung der Geschlechter durchzusetzen“. Frauen müßten die gleichen Erwerbschancen haben wie Männer. Überkommene Rollenverteilungen, die zu einer höheren Belastung der Frauen führten, dürften nicht durch staatliche Maßnahmen verfestigt werden.

Für die ursprünglich dem Nachtarbeitsverbot zugrundeliegende Annahme, daß Frauen auf Grund ihrer Konstitution stärker unter Nachtarbeit litten als Männer, hätten sich in der arbeitsmedizinischen Forschung keine Anhaltspunkte ergeben. „Nachtarbeit ist grundsätzlich für jeden Menschen schädlich. Sie führt zu Schlaflosigkeit, Appetitstörungen, Störungen des Magen-Darm-Traktes, erhöhter Nervosität und Reizbarkeit sowie zu einer Herabsetzung der Leistungsfähigkeit“, heißt es in dem Urteil.

Auch die besondere Bedrohung von Frauen auf ihrem nächtlichen Weg zur Arbeitsstelle rechtfertige keine Benachteiligung bei der Berufsfreiheit: „Der Staat darf sich seiner Aufgabe, Frauen vor tätlichen Angriffen auf öffentlichen Straßen zu schützen, nicht dadurch entziehen, daß er sie durch eine Einschränkung ihrer Berufsfreiheit davon abhält, nachts das Haus zu verlassen“.

Das Bundesverfassungsgericht erteilte dem Gesetzgeber einen klaren Auftrag: Nachtarbeit bedarf wegen ihrer nachgewiesenen Schädlichkeit auch weiterhin einer gesetzlichen Regelung. Grundlage seiner solchen Regelung sei das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, das allen Menschen zustünde. Für gesundheitlich besonders beeinträchtigte Personengruppen müßten besondere Schutzregelungen getroffen werden.

Allerdings errichteten die Richter gleich ein Warnschild: die soziale Situation von Familien, etwa mit kleinen Kindern, dürfe nicht zum Anlaß für eine Erneuerung frauenspezifischer Verbote gemacht werden.

Die Bundesregierung fühlt sich durch den Karlsruher Urteilsspruch in ihrer Absicht bestätigt, das bestehende Nachtarbeitsverbot im Laufe dieser Legislaturperiode mit der Vorlage eines neuen Arbeitszeitgesetzes aufzuheben. Die SPD-Bundestagsabgeordnete Marliese Dobberthien kündigte eine Initiative ihrer Fraktion für die generelle Einschränkung der schädlichen Nachtarbeit an. Die stellvertretende DGB- Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer äußerte sich skeptisch zu dem Urteil. Gleichberechtigung sei nicht mit „Gleichmacherei“ gleichzusetzen. Positiv sei die Feststellung des Gerichts zu bewerten, daß Nachtarbeit für alle Arbeitnehmer schädlich sei. Der DGB will verstärkt auf eine „umfassende Schutzgesetzgebung für alle, die nachts arbeiten,“ dringen. Martin Kempe