Wenn Karlovac fällt, ist Kroatien zerstückelt

Im Dorf Turan stehen sich Serben und Kroaten nur wenige Meter entfernt gegenüber, während im benachbarten Karlovac die ersten Granatlöcher wieder zugemauert werden/ Noch hält die Waffenruhe an diesem strategisch wichtigen Punkt  ■ Aus Karlovac Erich Rathfelder

„Herr Goulding“, gibt der Soldat höflich Auskunft, „ist gerade abgefahren.“ Kein Statement ist hier vom Unterhändler der UNO zu erhalten. Kommen sie nun, die Blauhelme, und wenn ja, dann wie? Der Soldat ist unschlüssig. „Das entscheiden die Politiker.“

Hier, vor dem Hauptquartier der kroatischen Armee in der 80.000 Einwohner zählenden Stadt Karlovac, stehen andere Dinge auf der Tagesordnung. Denn die alte Garnisonsstadt, kaum 70 Kilometer westlich von Zagreb gelegen, war vor dem 15. Waffenstillstand eine der am meisten umkämpften Städte Kroatiens. Im Kampf um Karlovac entscheidet sich militärisch das Schicksal der Republik. Nur etwas mehr als 20 Kilometer südlich der slowenischen Grenze gelegen, halb umzingelt von den Truppen der jugoslawischen Armee und ihren Verbündeten, den serbischen Freischärlerverbänden, verlaufen hier die Verbindungsstraßen von Zagreb zur Küste. Brächen die Truppen der Gegenseite an dieser Stelle durch, wäre Kroatien in zwei Teile gespalten. Und damit die Lebensfähigkeit des Gesamtstaates vollständig in Frage gestellt.

Die Spuren der vergangenen Kämpfe sind noch deutlich zu sehen. Die Granattreffer haben in vielen Hauswänden mannshohe Krater hinterlassen. Fenster sind zerborsten, Dächer zerstört. Doch schon wird wieder gehämmert und gezimmert. Geschäftsleute legen selbst Hand an, um ihre ausgebrannten Läden herzurichten. Manche Granatlöcher sind schon zugemauert. Und wie ein Wunder mutet es an, daß trotz des Krieges von Warenknappheit nichts zu merken ist. Die Obststände quellen über von Äpfeln und Apfelsinen, selbst Bananen sind zu haben.

Es ist schneidend kalt geworden. Die Straßen sind vereist, und der Schnee liegt dreißig Zentimeter hoch. Mit einem Jeep werde ich zur südlichen Front gebracht. Mein Begleiter, ein ehemaliger Schuldirektor, ist der Sicherheitschef der Stadt, der die Aufgabe hat, Heckenschützen zu „eliminieren“. Wir lassen die Brücke hinter uns und rollen langsam in das Dorf Turan.

„Dies ist eine der wenigen Brückenköpfe der kroatischen Armee entland der Flüsse Corena, Kupa und der Sava, die in Mittelkroatien und bis weit nach Slawonien die Demarkationslinie bilden,“ erklärt der Begleiter. Es ist plötzlich ziemlich still geworden. Fast alle Häuser des Dorfes tragen die Spuren der Zerstörung. Hier ist ein Dach abgerissen, dort ist eines vollständig ausgebrannt, hier noch eine Haushälfte intakt. Sämtliche Einwohner mußten fliehen. Aus den Fensterhöhlen winkt ab und zu ein Soldat. An einer Mauer bleibt das Auto stehen. Bis zur Frontlinie kommt man nur noch zu Fuß weiter. Dort beginnt nach serbischer Version die kürzlich ausgerufene Serbische Republik Krajina.

Eine Gruppe schwerbewaffneter Soldaten begleitet uns. Noch ein Stück geht es die Straße des Dorfes entlang, wo einmal 3.000 Menschen lebten. „Etwa 15 Prozent waren Serben“, sagt der Begleiter und deutet auf ein neu gebautes, jedoch ziemlich ramponiertes Haus. „Dies gehörte einer serbischen Familie, der Mann kämpft jetzt auf der Gegenseite.“ Am Vorabend des 3. Oktober seien alle Serben des Dorfes verschwunden. „Eine serbische Lehrerin hat sich sogar noch ordnungsgemäß bei mir krank gemeldet. Aber wir wußten schon, was dies bedeutet. Am nächsten Tag begann der Angriff, und wir hatten damals nur wenige Waffen.“ Er deutet zur Rechten, wo das durch Granattreffer beschädigte Schulhaus liegt. „Fünfzig Lehrer waren wir, zehn davon Serben.“

Auf einem eisigen Pfad geht es langsam weiter durch den Schnee in Richtung auf eine Anhöhe. Die Begleitmannschaft stoppt und deutet zur Seite, wo einige Ruten aus dem Boden ragen. Hier seien Minen gelegt, erklären sie, einige tausend im und um das Dorf herum. Ich solle keinesfalls den Pfad verlassen. Nach weiteren hundert Metern um eine Kurve herum sehen wir den „gegnerischen“ Unterstand kaum fünfzig Meter vor uns liegen. Dort ist es unruhig geworden. Durch ein Megaphon wird uns bedeutet umzukehren. „An dieser Stelle wurden drei Stunden nach dem Waffenstillstand drei Soldaten getötet“, sagt der Begleiter, „als sie mit Offizieren der Bundesarmee verhandelten. Von Cetniks“, fügt er trocken hinzu.

Seither wurde vereinzelt geschossen, vier Menschen, die aus ihren Häusern Habseligkeiten bergen wollten, seien ungekommen. Doch heute bleibt alles ruhig. Wir kehren um und erreichen das Hauptquartier des Dorfes. Dobrovko Belan, der Kommandeur der 110. Brigade, von riesiger Gestalt und mit aufmerksamem, ruhigem Blick, empfängt uns in einem großen, mit Feldbetten vollgepfropften Raum. Die einzige Soldatin reicht Kaffee und Gebäck. Er bestätigt den strikten Befehl der kroatischen Regierung, die Waffenruhe einzuhalten. Kürzlich seien 12 Gegner übergelaufen, zwei Kroaten, einige Muslime, Mazedonier und auch zwei Serben. Doch auch seine Männer wirken abgespannt, vom ewigen Wachdienst zermürbt. Bisher habe die Kommunikation mit dem Gegner funktioniert — per Telefonverbindung. „Doch es ist unkalkulierbar, was die Cetniks und die anderen unkontrollierten Gruppen machen.“ Wo die Blauhelme stationiert werden könnten, wisse er nicht. „Es gibt ja kein Niemandsland, wie Sie gesehen haben. Wir müssen weiter auf der Hut sein, denn wenn Karlovac angegriffen wird, dann beginnt hier zuallererst der Tanz.“