Von den Ratten zu den Frauen

Der französische Immunologe Dominique Bellet will mit einer Impfung gegen Schwangerschaft Versuche an Frauen vornehmen/ In Indien wird ein ähnliches Serum bereits getestet/ Wirkungen auf das Immunsystem sind noch völlig ungeklärt  ■ Von Ingrid Schneider

Am vergangenen Wochenende trat der Immunologe Dominique Bellet vom Institut Gustave Roussy in Villejuif bei Paris mit einer spektakulären Meldung an die Öffentlichkeit: Nach erfolgreichen Tests mit einer Impfung gegen Schwangerschaft an Ratten „erkläre ich mich bereit, die übliche Phase der Erprobung an Affen zu überspringen und direkt Versuche an Frauen vorzunehmen“. Mit dieser Ankündigung hat Bellet Anspruch auf „Vaterrechte“ an einer Verhütungsmethode angemeldet, die seit über 20 Jahren international erforscht wird. Immunologische Verhütungsmittel sollen einfach, billig, effektiv und lange wirksam sein.

Das Immunsystem soll überlistet werden

Die Anti-Schwangerschafts-Impfung soll gegen das Schwangerschaftshormon HCG (Humanes Chorion-Gonadothropin) immun machen. Das HCG-Hormon wird schon wenige Tage nach der Befruchtung von der Eizelle gebildet und ist notwendig, um die Schwangerschaft aufrechtzuhalten. Durch das Impfen soll nun das weibliche Immunsystem das körpereigene HCG als „fremdes“ auffassen und mit einer Abwehrreaktion wie bei Krankheitserregern reagieren. Um das Immunsystem zu überlisten, wird ein Teilstück des HCG-Hormons mit Tetanus- oder Diptherie- Impfstoffen gekoppelt und mit anderen Substanzen verstärkt. Bei der Injektion bilden Frauen nicht nur Antikörper beispielsweise gegen Tetanus, sondern auch gegen HCG. Dabei gehen die Forscher davon aus, daß die im Körper der Frau gebildeten Antikörper aktiviert werden, sobald das Schwangerschaftshormon auftritt. Die Antikörper fangen im Blut das HCG-Hormon ab und blockieren seine Wirkung: Die befruchtete Eizelle kann sich nicht einnisten und wird abgestoßen.

Die französischen Forscher sind nicht die einzigen, die an einem Anti- HCG-Impfstoff experimentieren. Koordiniert werden diese Forschungen seit 1974 in der „Task Force für fruchtbarkeitsregulierende Impfstoffe“ des Sonderprogramms der Weltgesundheitsorganisation für die menschliche Reproduktion (WHO- HRP). Einer der größten Geldgeber für die Verhütungsimpfung ist das New Yorker Population Council.

Führend im Wettlauf um die Impfung ist ein indisches Team unter der Leitung des Biochemikers G.P. Talwar am Nationalen Institut für Immunologie in Neu-Delhi. Die indische Regierung fördert diese Forschung aus bevölkerungspolitischen Motiven. Sie will die Impfung möglichst schon Mitte der neunziger Jahre in ihren sogenannten „Familien-Wohlfahrtsprogrammen“ einsetzen. Talwars Team hat nach langjährigen Tierversuchen an Mäusen, Meerschweinchen und Affen bereits ab 1974 erste Testreihen an knapp 200 Frauen aus Indien, Brasilien, Finnland und Schweden durchgeführt. Nach internationalen Standards wird ein neues Verhütungsmittel zunächst an sterilisierten Frauen getestet, um die Verträglichkeit zu prüfen sowie Dosierung und Zusammensetzung des Impfserums auszuprobieren. Die zweite klinische Testphase, die erweisen soll, ob die Impfung tatsächlich empfängnisverhütend wirkt, hat im Mai 1990 in Indien begonnen. An 180 „fruchtbaren, sexuell aktiven Frauen“ soll Wirksamkeit und Wirkungsdauer der Impfung erprobt werden. Bisher geht Talwar davon aus, daß die Impfung ein Jahr lang vorhält und die Frau dann wieder schwanger werden kann.

Die Aufklärung bleibt auf der Strecke

Die indischen Frauen werden kaum über die Risiken der Impfung aufgeklärt. In den „Motivationsgesprächen“, bei denen Versuchskandidatinnen angeworben werden, erzählen ÄrztInnen den Frauen, die Impfung sei „hundertprozentig sicher und frei von Nebenwirkungen“. Nicht zufällig unterstützt das Population Council diese Tests. Denn in Indien sind die Versicherungskosten niedrig, und es wird bei schweren Nebenwirkungen nicht mit Haftungsklagen gerechnet.

Talwars schärfste Konkurrenz ist ein Team um Vernon Stevens von der Ohio State University (USA) und Warren Jones am Flinders Medical Centre im australischen Adelaide. Seine Forschung wird direkt von der WHO unterstützt. Es hat seine erste klinische Testphase 1986 an 30 australischen Frauen durchgeführt und bereitet nun die Phase II vor.

Alle drei Forschungsgruppen setzen bei ihrer Impfung am HCG-Hormon an. Sie verwenden jedoch jeweils unterschiedliche Varianten. Während Talwar und das WHO- Team auf Teile des HCG-Hormons zurückgreifen, das aus tierischem und menschlichem HCG gewonnen wird, operiert Bellet mit einem synthetisierten HCG-„Peptidcocktail“.

Mit seinem jetzigen Vorstoß versucht Bellet den Sog der Diskussion um die Abtreibungspille RU486 zu nutzen. Beim Streit um spätere Forschungslorbeeren und Marktanteile bleiben jedoch die Interessen der Frauen auf der Strecke. Denn die möglichen Neben- und Langzeitwirkungen der Impfung sind noch völlig ungeklärt. Selbst die WHO hält Drüsen- und Stoffwechselstörungen sowie schwere Schädigungen des Immunsystems für möglich. Außerdem kann die Impfung bei Komplikationen nicht wie die Pille abgesetzt werden. Schon jetzt geben Wissenschaftler zu, daß die Impfung nicht sofort nach der ersten Injektion wirkt, sondern erst einige Wochen später. Was mit dem Ungeborenen passiert, falls eine Frau während dieser Zeit doch schwanger wird, können sie nicht beantworten. Außerdem bleibt offen, wie lange der Impfstoff tatsächlich wirkt und ob seine Wirkung überhaupt aufhebbar ist. Aus der „zeitweisen Sterilisation“ kann eine dauerhafte Unfruchtbarkeit resultieren.

Das internationale feministische Netzwerk gegen Gen- und Reproduktionstechnologien FINRRAGE hat nicht nur aus medizinischen Befürchtungen Einspruch gegen die Forschung an Verhütungsimpfungen erhoben, FINRRAGE-Aktivistinnen protestieren auch gegen Äußerungen von Forschern, wonach „Schwangerschaften als Epidemie“ gesehen und mit Seuchen gleichgesetzt werden. Das Mißbrauchspotential bei der Impfung ist jedoch größer als bei jeder anderen Verhütungsmethode. Frauen könnten leicht ohne ihr Wissen und ohne ihre Zustimmung geimpft werden — Verhütung als Zwangsmaßnahme.

Auch in der französischen Presse werden ethische Bedenken laut. Der 'Quotidien de Paris‘ wendet sich gegen die Behandlung von Schwangerschaft als Krankheit, der 'Figaro‘ nannte den direkten Übergang von Nagetier- zu Menschenversuchen „erstaunlich“. Bleibt zu hoffen, daß französische Frauen [wieso nur die?, d. s-in] sich nicht nur gegen die Verwendung als Versuchskaninchen wehren, sondern auch gegen die Impfung und ihre Anwendung in der der Dritten Welt mitstreiten.