ESSAY
: 1945 ist nicht 1992

■ Warum nach dem Ende des Nazi-Regimes dessen „Bewältigung“ unterblieb, und wie wir Westdeutsche uns heute verhalten sollen

In diesen Tagen, in denen im Zusammenhang mit den offenen Worten des Manfred Stolpe in besonderer Weise deutlich wird, wie ahnungslos jeder bleibt, der nie in einer Diktatur gelebt hat — und das sind ja fast alle Westdeutschen, vor allem die Damen und Herren Journalisten —, in diesen Tagen überhaupt noch eine Meinung zum Thema Stasi und Vergangenheitsbewältigung zu äußern, fällt schwer. Besserwisserei und schnelle Urteile regieren die Stunde. Wer denunziert und sichtet, ist der Mann des Tages. Und wer von Kirche so viel versteht, wie ich von Elektronik, begreift immer noch nicht, welche Rolle die evangelischen Kirchen und ihre Leitungen in den Jahren der SED-Herrschaft gespielt haben — einzigartig und unverwechselbar, auf dem schmalen Grat zwischen Absturz und Anpassung. Ich hoffe sehr, die durch Manfred Stolpe bewußt ausgelöste Diskussion wird eine Art Volksbelehrung, vor allem für uns im Westen. Unbelehrbar wird der Bayerische Rundfunk bleiben, ein Staatssender der CSU mit seinem Mecki Mertes an der Spitze. Diese bittere Einleitung vorweg.

Die Alliierten haben uns die Arbeit abgenommen

Zu den Wertungen und Erklärungen der Lage in den neuen Bundesländern gehört auch immer wieder die Frage, ob die Situation in Westdeutschland nach 1945 und in der DDR nach der „Wende“ verglichen werden kann. Ich will mich als einer der „Zeitzeugen“ äußern, die ja jetzt rasch aussterben. Um das Ergebnis meines Nachdenkens und der Erinnerung vorwegzunehmen: Die Abläufe sind unvergleichbar. Natürlich: Beide Male brach ein verbrecherisches System zusammen. Aber 1945 wurde dieser Zusammenbruch von außen, durch die Sieger des Zweiten Weltkrieges herbeigeführt. 1989 kam die Wende von innen. Deutsche gingen auf die Straße und riefen: „Wir sind das Volk!“ 1945, unmittelbar nach der bedingungslosen Kapitulation, erschien das Gesetz Nr. 1 der Alliierten Militärregierung— damals noch vier Mächte gemeinsam in Berlin —, das die gesamte gesetzgebende, richterliche und verwaltende Gewalt den Siegern übertrug. Das war für einen winzigen Augenblick die berühmte Stunde „Null“, die natürlich sofort zu einem seltsamen Gemisch von immer neuen alliierten Anordnungen und den bestehenden Verwaltungen wurde. Man konnte ja nicht den gesamten deutschen Apparat stillegen.

Die „Bewältigung der Vergangenheit“ freilich war ausschließlich Sache der Besatzungsmächte. Es mag sein, daß es irgendwo Fälle gab, wo noch empörte Deutsche einen der schlimmsten Quäler von SS und SA zur Rechenschaft zogen. Aber etwa der Ortsgruppenleiter der Partei in meinem oberschlesischen Pfarrdorf, der meine Frau bewußt nicht benachrichtigte, als die Rote Armee die deutsche Grenze überschritt, weil sie ein Staatsfeind war, ist in der „Zone“ untergetaucht und dort sicher ganz schnell ein braver Kommunist geworden. Die Strafe für die Verantwortlichen lag bei der jeweiligen Besatzungsmacht oder bei allen gemeinsam. Der Nürnberger Prozeß war kein deutsches Unternehmen. Er und eine Fülle von anderen Prozessen waren einmalige Beispiele von Verurteilung einer Regierungskriminalität. Prozesse wie die unsäglichen Versuche deutscher Justiz, Schuldige wegen ihrer wirklichen Schuld und nicht wegen Unterschlagung oder Untreue zu verurteilen, waren undenkbar. Aber wer „verantwortlich“ war, blieb eben auch Sache der Sieger. Sie sperrten bestimmte militärische und zivile Dienstgrade zunächst in Internierungslager und entließen wohl 90 Prozent ganz schnell und geräuschlos wieder.

Die Beurteilung des gemeinen Volkes aber wurde die sogenannte Entnazifizierung. Fragebögen wurden verteilt, ausgedacht wohl vor allem von deutschen Emigranten, die die deutsche Szene noch etwas beurteilen konnten. Es begann ein gigantischer Papierkrieg ohne irgendwelche Folgen, die etwa zu einer Schulderkenntnis oder gar einer inneren Umkehr führten. Sehr schnell waren wir alle überprüft, der eine oder andere mußte noch vor einen Untersuchungsausschuß, der auch mit deutschen Antifaschisten besetzt war. Aber das Oberlandesgericht in Celle— ich wohnte dort seit Mai 1945 — war bis auf den Präsidenten schon 1947 wieder mit alten Richtern besetzt. Fast alle waren Parteigenossen gewesen.

Vor allem aber: Alle Unterlagen über die Verbrechen der Nazis gerieten in alliierte Hände und wurden zum großen Teil in die Heimatländer der Sieger überführt. Offensichtlich hatten die Nazis nicht jene Kilometer Akten produziert wie später der Staatssicherheitsdienst. Die Karteien der Mitglieder der Partei und ihrer Organisationen wurden in das „Document Center“ in West-Berlin eingeschlossen. Es war eine alliierte Dienststelle und nur unter strengen Bestimmungen für Deutsche, etwa zu wissenschaftlichen Zwecken, zugänglich. So hatten die Nazis zwar Millionen ermordeter Menschen hinterlassen, aber wenig Papier.

Heute fällt das Verdrängen schwerer

Es klingt zynisch, aber offensichtlich waren diese Millionen von Toten einfacher zu verdrängen als die Stasi- Akten. Denn die Verdrängung fand wie selbstverständlich statt. Als Begründung für diese Verdrängung wird immer wieder die alleinige Beschäftigung mit dem Wiederaufbau, dem Kampf ums Überleben angegeben. Natürlich spielte er eine Rolle. Aber da die Sieger das Geschäft der „Bewältigung“ selbst übernommen hatten, war das Vergessen sehr leichtgemacht. Vor allem aber: Diese Nazis, diese Generäle und Wirtschaftsführer, diese Bürgermeister und Richter waren doch gute Patrioten gewesen. Sie hatten einen Krieg verloren. Aber bis auf wenige Ausnahmen an der Spitze waren es doch reputierliche Leute, solche Nazis oder Deutschnationale wie die große Mehrheit des Volkes noch bis in die letzten Kriegsmonate hinein. Sie waren nun von den Siegern Verfolgte. Sie waren jedenfalls keine Kommunisten. Ich behaupte, daß diese Grundtendenz der wesentliche Unterschied zu den Verhaltensweisen des „Volkes“ heute in der alten DDR sein könnte. Der Feind steht immer noch links, was immer das sei, und niemals rechts. Erst viel später, als endlich viel zu spät sich die deutsche Justiz bequemte, einige Prozesse, wie die gegen die Mörder von Auschwitz, zu führen, begann besonders bei der jungen Generation ein langsames Aufwachen.

Im übrigen war jede ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Vergangenen — und doch so Gegenwärtigen — abrupt zu Ende, als die vier Sieger von 1945 ihren jeweils neuen Feind ausgemacht hatten. Die deutschen Generäle bestanden darauf, daß ihre Mitarbeit beim Aufbau einer westdeutschen Wehrmacht nur möglich sei, wenn alle „Kriegsverbrecher“ rehabilitiert wurden. Die Flicks, die Krupps, die BASF — alles war vergeben und vergessen. Der Feind von gestern war über den Schwanz des Pferdes auf den Sattel der Sieger gehoben worden.

Hinschauen, nachdenken!

Darum, darum vor allem, ist die völlig andere Lage 1992 in Ostdeutschland so wichtig geworden: Nicht als erste zu richten, sind wir Westdeutschen aufgerufen, sondern hinzuschauen, nachzudenken, sich zu verändern. Vielleicht, vielleicht gelingt es diesmal. Heinrich Albertz