„Unsere Angst wächst von Tag zu Tag“

Algeriens Junta verstärkt den Druck auf die Islamisten und die Öffentlichkeit/ Moscheen werden unter staatliche Aufsicht gestellt und mit juntatreuen Imamen versehen/ Verhaftungswelle hält an  ■ Von Oliver Fahrni

Die Blutkonserven liegen bereit. Niemand darf Urlaub nehmen. Vor dem Staatsstreich war das Krankenhaus in Oran angewiesen worden, Vorsorge für den schlimmsten Fall zu treffen. „Die Frage ist nur noch“, sagt Chirurg Ali, „wie lange die Bärtigen ihre Basis ruhighalten können. 24 Stunden, eine Woche, einen Monat? Die Kids brennen auf Abrechnung. Es ist wie im Oktober 88. Die Amputiersägen sind gewetzt.“ Chirurgenhumor. Taufiq wischt das Bild mit einer barschen Handbewegung weg: „Du träumst. Die Islamisten sind am Ende. Diesmal wird alles ruhig bleiben. Sie haben nicht reagiert, weil sie fix und fertig sind.“ Taufiq betreibt eine Galerie, brüllende Löwen und Abstraktes. Jeden Mittwoch treffen sie sich mit Freunden zum Schwarzmarkt-Whiskey-Dinner.

Am Nachmittag haben Spezialeinheiten der Polizei einen zwölfjährigen Jungen und eine ältere Frau erschossen. 400 Jugendliche hatten in Bach Djarah, der südlichen Banlieue von Algier, versucht, die Verhaftung von zwei Imamen durch die Geheimpolizei zu verhindern, und daraufhin das Polizeikommissariat angegriffen. Sie riefen: „Ihr seid Juden, wir sind die Intifada“ und „daula islamia“, „islamischer Staat“. Die herbeigerufenen Sondereinheiten des Innenministeriums hatten das Quartier umstellt und geschossen. In Bach Djarah begann die Revolte vom Juni 1991. „Fix und fertig“, beharrt Taufiq, „außer natürlich ein paar Terroristen.“

Es war der erste schwere Zwischenfall seit dem Staatsstreich. Am gleichen Tag wurden Schüsse aus Constantine gemeldet. Nachrichtensperre. Tag um Tag verstärkt das Regime seinen Druck. Nach der Verhaftung von FIS-Sprecher Rabah Kebir wurden in mehreren Städten Imame und FIS-Kader festgesetzt. Nach den populären Predigern Moghni und Said wird gefahndet.

Innenminister General Larbi Belkheir drohte mit härteren Armeeaktionen, falls sich die Gläubigen heute, Freitag, zur politischen Plauderei in den Moscheen treffen sollten. Die FIS-Moscheen Es-Sunna und Al-Watan wurden gestern unter Staatsaufsicht gestellt und mit Imamen der Junta bestückt. Die Junta zielt mit dem „Krieg der Moscheen“ (eine algerische Tageszeitung) auf das Kommunikationsmittel der FIS. Die Direktoren zweier FIS-Blätter verschwanden vorgestern Nacht in Militärgewahrsam. Gleichzeitig verbot General Belkheir die Sammlung von Spenden. Die „Zakat“ (Spende) ist einer der fünf Hauptpfeiler des Islam und erlaubt der FIS überall dort eine wirksame Sozialarbeit, wo das Regime die algerische Bevölkerung außen vor hält. Dieser Tage hatten die Islamisten für die Unwetteropfer vom Wochenende (bislang 14 Tote) gesammelt. „Die Generäle“, sagt Ali, „haben endlich begriffen, wie die FIS arbeitet. Und ihre Repressionsmethoden sind feiner geworden.“ Am Montag war Ali zum Klinikchef gerufen worden. „Wir haben Weisung, Erschossene unter ,natürliche Todesfälle‘ abzubuchen und die Klappe zu halten.“

Die harte Hand von Junta-Chef Khaled Nezzar bekam am Mittwoch auch der frühere Premier Mouloud Hamrouche zu spüren. Hamrouche ist die graue Eminenz hinter FLN- Chef Mehri. Die alte Einheitspartei hatte sich am Wochenende nicht für eine neue Führung und eine klare Unterstützung des Staatsstreiches entscheiden können. Prompt wurden Hamrouche und sein früherer Innenminister Mohammed Salah Mohammedi am Mittwoch von der Sécurité militaire — die offiziell abgeschafft ist — über ihre Rolle im Juni 1991 vernommen. Abrechnungen im Serail der Nomenklatura. Die „Normalisierung“ der algerischen Öffentlichkeit macht auch vor den Sozialdemokraten der FFS nicht halt. FFS- Gründer Ait Ahmed, Revolutionsheld der ersten Stunde und Integrationsfigur der Demokraten, kommt unter parteiinternen Druck. Junta- Freunde forderten öffentlich seinen Rücktritt.

In den „Quartiers suisses“, wie in Algier die besseren Adressen heißen, ist die Erleichterung über den Staatsstreich einer klammen Ernüchterung gewichen. Das Beharren der Islamisten auf dem demokratischen Weg irritiert manche „Demokraten“ und Bildungsbürger. Lehrerin Samira möchte „gerne an Boudiaf und seinen Staatsrat glauben“, sieht aber „nur Militärs und die alte Nomenklatura“, die sich ihre Privilegien sichern: „Die Islamisten durfte man nicht machen lassen, aber wir wollten einen anderen Weg — mehr Demokratie, mehr Rechte, mehr Öffnung.“ Samiras FreundInnen in Bürgerbewegungen, FFS, Frauenorganisationen und Menschenrechtsgruppen, die bisher in den Unterröcken der algerischen Nomenklatura lebten, fragen sich, ob für sie überhaupt noch Platz ist. Hamid, ein Journalist, der dieser Tage nur noch Kulturhinweise schreiben mag: „In der Redaktion sind alle hysterisch. Keiner glaubt an die Militärs, aber alle schreiben Lobeshymnen auf Nezzar & Co. Wir sind zwischen Hammer und Amboß eingeklemmt. Auf der einen Seite die Hunde, die Algerien unter sich aufgeteilt haben. Auf der anderen Seite die religiösen Faschisten. Bitter, bitter. Wir sind sprachlos. Was weiß ich schon vom Leben der AlgerierInnen in Bab-el- Oued oder Belcourt? Alles, was mir bleibt, ist eine ungeheure Angst, die jeden Tag wächst.“