Stahl wankt trotz Subventionskorsett

EG-weit fürchten die Schlotbarone den Wettbewerb, steigende Kosten und sinkende Weltmarktpreise  ■ Von Erwin Single

Berlin (taz) — Ruprecht Vondran, Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl, konnte sich im Sommer noch die Hände reiben. Deutsche Stahlerzeugnisse, so schien es, waren gefragter denn je. Die drei wichtigsten Abnehmerbranchen Bauwirtschaft, Maschinen- und Automobilbau boomten wie kaum zuvor. Die Stahl-Order aus den europäischen Nachbarländern stieg an; auch Drittländer bestellten wieder mehr.

Doch Vondran hatte sich zu früh gefreut. „Das Hohelied vom Stahl wird derzeit seltener gesungen“, mußte der Stahlgemeinschafts-Präsident im November bekennen. Der Stahlboom, seit jeher extrem konjunkturabhängig, ging wie so oft auf Talfahrt. Mitten in der laufenden Tarifrunde, in der die IG Metall Lohn- und Gehaltserhöhungen von 10,5 Prozent verlangt, sieht sich die Branche durch gestiegene Produktionskosten bei weltweit sinkenden Preisen unter Druck.

Nach dem Zusammenbruch des Handels der RGW-Länder untereinander warfen die osteuropäischen Stahlwerke ihre Produkte zu Schleuderpreisen auf den Weltmarkt; die Schwellenländer haben dem Preisdruck inzwischen nachgegeben. Allein zwischen 1988 und 1990 kletterten die osteuropäischen Billigexporte in die EG um 30Prozent auf über zwei Millionen Tonnen. Laut einer vergangene Woche veröffentlichten Studie der EG-Kommission droht Westeuropas Stahlindustrie in diesem Jahr ein Abbau von 15.000 Arbeitsplätzen. Besonders betroffen, so die Kommissare, seien Deutschland, Großbritannien und Spanien. Das Essener RWI-Institut rechnete in seinem jüngsten Gutachten für 1992 mit 6.000 Entlassungen allein in Westdeutschland.

Seit dem Stahlboom 1989 sind die Einfuhrpreise um 20Prozent abgesackt, die Exportpreise um 15Prozent. Brachte eine Tonne Feinblech 1989 im Drittlandexport noch 560 US-Dollar ein, waren es Ende 1991 nur noch 390 Dollar. Selbst im Inland brachen die Preise um acht Prozent ein. Die Erlöse pro Tonne liegen nach Angaben des Arbeitgeberverbandes Stahl heute um 70 bis 100 Mark niedriger als im Vorjahr. Viele Produkte könnten nur noch mit Verlust verkauft werden. Die Bilanzergebnisse haben sich halbiert; insgesamt wird die Ertragsminderung 1991 auf über zwei Milliarden Mark beziffert.

Nur Italiener, Franzosen und Spanier, so lamentieren die deutschen Stahlbarone, könnten dem neuerlichen Druck noch standhalten, weil dort massiv subventioniert werde. Allein die italienische Ilva soll im vergangenen Jahr umgerechnet 2,6 Milliarden Mark kassiert haben, der französische Stahlgigant Usinor-Salicor 700 Millionen und die spanischen Stahlschmieden rund eine Milliarde Mark.

Die EG-Stahlproduktion, seit 1988 quotenfrei und noch immer mit Überkapazitäten belastet, befindet sich weitgehend in Händen von hochsubventionierten Staatskonzernen. Usinor-Salicor beherrscht mit einem Ausstoß von 23 Milliarden Jahrestonnen nahezu den gesamten französischen Stahlmarkt. Auch die niederländische Hoogovens, British Steel und die italienische Ilva haben ihr Terrain unter Kontrolle. In den Jahren 1980 bis 1985 flossen 70 Milliarden Mark an Staatszuschüssen — vor allem in Frankreich und Italien. Nun will die EG ihren Subventionskatalog für die Stahlindustrie erneuern — danach können Stahl-Beihilfen im Rahmen regionaler Investitionsförderung bis 1995 weiter gewährt werden, sofern die Stahlschmieden ihre Produktionskapazitäten nicht ausweiten.

Doch die EG-Stahlgiganten dürfen weiterhin auf protektionistische Einfuhrbeschränkungen hoffen. Zwar hat die EG-Kommission die Importquoten aus Schwellenländern und Fernost gelockert, Mengenbeschränkungen für US-amerikanische Stahlieferungen ab März 1992 ganz aufgehoben und einen Verzicht auf die Begrenzung osteuropäischer Einfuhren in Aussicht gestellt, doch vielen Staaten, allen voran Frankreich und Italien, will das nicht schmecken. Und daß die Branche selbst die freie Konkurrenz gar nicht liebt, wissen die Brüsseler Wettbewerbshüter ebenfalls; sie vermuten längst heimliche Absprachen über Produktionsvolumen unter den europäischen Stahlriesen.

Doch nicht nur die Subventionen der EG-Konkurrenz sind es, die der deutschen Stahlindustrie zu schaffen machen; auch in den Nachbarstaaten wurde kräftig rationalisiert. Das Ergebnis: Während hierzulande bei der Produktion einer Tonne Rohstahl 4,8 Stunden verstreichen, sind es in Frankreich nur 4,1 Stunden. Die Franzosen fahren diesen Kurs konsequent weiter: Usinor-Salicor will bis 1994 jährlich 2.500 seiner derzeit 75.000 Beschäftigten wegrationalisieren und gleichzeitig allein in Lothringen rund eine Miliarde investieren.

Die westdeutsche Stahlindustrie hatte gehofft, mit High-Tech-Produkten und Spezialstählen ihre weltweit nach wie vor starke Position noch ein paar Jährchen zu erhalten, denn der Billigstahl aus Osteuropa ist oft nicht einmal für Rasierklingen gut genug. Doch der Rationalisierungsdruck wächst. Branchenriese Thyssen, der als einziges deutsches Unternehmen (Stahl-Umsatz: 10,4 Mrd. Mark) auch international mitmischt, reagierte als erster auf die Konjunkturschwäche: Bis Ende September werden weitere 2.000 Arbeitsplätze im Duisburger Raum abgebaut. Weitere Rationalisierungspotentiale werden laut Vondran in der Spezialisierung und Diversifizierung jenseits des Stahls sowie in unternehmensübergreifenden Kooperationen oder Fusionen gesehen. Keine neue Idee, denn schon 1983 hatten die sogenannten Stahlmoderatoren, darunter Alfred Herrhausen, in einem Gutachten der Stahlindustrie einen Zusammenschluß zu zwei Stahlkonzernen angeraten.

Doch die kapitalintensive alte Schornsteinindustrie, die in den 60er Jahren durch Rüstungs- und Tankeraufträge der Werften einen zweiten Frühling erlebt hatte, konnte sich auf Fusionen nicht einigen. Jahrelang kränkelte die Branche am Tropf der sich auf rund sieben Milliarden Mark belaufenden Struktur- und Investionshilfen dahin. Was die staatlichen Subventionen nicht vermochten, dafür sorgten die EG-weiten Mindestpreis- und Quotenkartelle. Erst Anfang der 80er Jahren zeigte die Operation Strukturanpassung Erfolge.

In den Krisenjahren wurden Stahlkapazitäten von rund 20 Millionen Tonnen abgebaut — die Hälfte des gesamten EG-Kapazitätsabbaus. Rund 130.000 Stahlkocher verloren ihren Arbeitsplatz; die Branche beschäftigt heute 120.000 Personen.

Angesichts der EG-internen Konkurrenz und den Billigimporten drängen die inländischen Stahlerzeuger auf strategische Allianzen. Doch die einst anvisierten Fusionen blieben nicht zuletzt wegen der Feindseligkeiten untereinander Utopie.

In Sachen Fusion versucht sich nun der Krupp-Konzern (Umsatz: 15,6 Mrd. Mark). Die Essener, Spezialisten in Sachen Edelstahl, wollen mit der Hoesch-Übernahme zum Marktführer in Deutschland aufsteigen. Im Vorgriff auf die nächste Stahlkrise werden Coups wie Krupp- Hoesch unter dem „Zwang der Realitäten“ (Krupp-Chef Cromme) nicht ausbleiben. Salzgitter fusionierte bereits 1989 mit Pressag; Unicor-Salicor sackte zu 70Prozent den ebenfalls 1989 gegründeten saarländischen Stahlverbund (Dillinger Hütte/Saarstahl) ein. Klöckner könnte sich an British Steel anlehnen, Salzgitter/Preussag auf dem osteuropäischen Markt umsehen.

An den ostdeutschen Stahlerzeugern bekundeten die westlichen Stahlbarone zunächst jedoch wenig Interesse; die unrentablen, kleinen Unternehmen mit veralteten Siemens-Hochöfen, dazu noch regional verstreut, wollten sie allenfalls mit riesigen staatlichen Hilfen übernehmen. Erst als die Treuhand in Hennigsdorf und Brandenburg dem italienischen Konkurrenten Riva den Zuschlag erteilte, besann man sich eines besseren. Bei der Ausschreibung der EKO-Stahl in Eisenhüttenstadt wollen die deutschen Stahlgiganten das Rennen gegen die italienischen Bewerber aufnehmen — nicht zuletzt, um ein weiteres Einbrechen der ausländischen Konkurrenz in den wohlbehüteten deutschen Stahlmarkt zu verhindern.