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: Wenn die Lyrik Kopf steht ...

Wer aus dem Kiryl nicht mir Nackenstarre kommt, ist es selbst schuld: Die halbe Decke ist beklebt mit Gedichten und Zeichnungen, Textfragmenten und Grafiken. Und auch nur wer seinen Kopf so verdreht, wird den Namen des Cafés andersherum lesen und dann dessen tieferen Sinn verstehen können.

Das Kiryl ist ein Künstler-Café im tiefsten Prenzlauer Berg. Zwar existiert es erst seit Oktober 90, doch die meisten Gäste gehören mehr oder weniger eng zu einer eingeschworenen Gemeinschaft. Literaten und Maler, Lyriker und sonstige Exoten geben sich hier ein Stelldichein; nicht ganz zufällig: Das Café gehört zum benachbarten Druckhaus Galrev, bei dem das Lesen von hinten nach vorne ebenfalls lohnt. Dieses verlegt die Werke der meisten seiner Gäste; Wand- und Deckenschmuck sind Teile des Angebots.

So finden die Gäste Bücher, wo in anderen Cafés hochglänzende Zeitschriften baumeln. Ab 11 Uhr können Interessierte beim Frühstück in den Neuerscheinungen lesen, abends ist es dafür meist zu voll und laut. Dann drängelt sich hier die Künstler- Szene des Prenzlauer Berg, wählt genüßlich aus dem großen Angebot italienischer Weine, pro Flasche zwischen 10 und 42 Mark.

»Nein, Sascha Anderson ist heute nicht da«, das reichte Akima an der Theke meist, um die Stasi-witternden Schaulustigen mit ihren umgehängten Fotoapparaten wieder loszuwerden, »nein, bestimmt nicht, und Wolf Biermann auch nicht«. Entsetzen packt die Touristen, Gelächter die Stammgäste, wenn Carolina beim Einschenken bemerkt: »Wer seine Stasi-Mitarbeit zugibt, ist doch wenigstens wieder wer.«

Auch sonst wird an der Bar viel gelacht, zum Beispiel über den Aufsatz »Politik ist absurdes Theater«, den der jetzige Jugendsenator Thomas Krüger einst für die Umweltbibliothek geschrieben haben soll. Doch die Spötter stören diesen wenig: Er genießt gerade mit Freunden seinen Nardini, einen von neun Grappas auf der Karte, den ihm Monique im heißen Glas serviert.

Schwerer haben es die Bierfreunde: Es gibt nur Flaschen, und die sind nicht ganz billig. Dafür stimmt die sonstige Auswahl von Kuchen über Suppen bis zu verschiedenen Salaten versöhnlich, elf Whiskysorten zieren Karte und Regal. Dort hat ein Gast »Bitte nicht meine Mutter fragen?« hingeschrieben, was noch heute Diskussionen über das Fragezeichen auslöst.

Im Gegensatz zu diesem anonymen Schreiber stellen sich die Galrev-Literaten regelmäßig ihren Lesern und Kollegen. Mindestens einmal im Monat findet freitags ab 21 Uhr eine Lesung im Caf'e statt, die nächste am 7.2. mit Bert Papenfuß- Gorek. Literaturfreunden ist das Kiryl also unbedingt zu empfehlen. Die Atmosphäre zwischen Galerie und Lesestube, Kneipe und Diskussionsforum ist ihren Besuch wert, und, wie Monique ausdrücklich betont, »die wunderschönen Bardamen nicht zu vergessen«.Christan Arns

Café Kiryl, Lychener Straße 73 (in der Sackgasse), zwischen den S-Bahnstationen Schönhauser und Prenzlauer Allee, von 11 bis 2 Uhr.