Jeder spielt seinen Part

■ »Vis a Vis« — Ein deutsch-russisches Regieseminar im Künstlerhaus Bethanien: Intensität durch Askese

Fünfzehn russische und fünfzehn deutsche Schauspieler proben seit Dezember letzten Jahres unter der Leitung des Moskauer Regisseurs Anatoli Wassiliew an Szenen aus Dostojewskis Roman Der Idiot. Nach zunächst zweiwöchiger Arbeit in Moskau in der Schule der dramatischen Kunst setzte die Gruppe das begonnene Projekt in Berlin fort. Nicht eine fertige Inszenierung ist das Ziel, vielmehr die Erkundung unterschiedlichster schauspielerischer und interpretatorischer Möglichkeiten. Die Russen sprechen ihren Part auf russisch, die Deutschen deutsch. Für die Schauspieler eine große Herausforderung.

Wassiliew läßt dem Darsteller die Freiheit des Spiels, der Improvisation, die eigenen Vorstellungen von der Szene können entwickelt werden. Der Regisseur, 1989 schon einmal Gastdozent der Internationalen Regieseminare des Künstlerhauses Bethanien und in Berlin bekannt vor allem durch seine Inszenierung von Pirandellos Sechs Personen suchen einen Autor, versteht sich nicht als Regisseur im herkömmlichen Sinne. Nicht das Ergebnis, sondern der Prozeß selbst ist das wichtigste und spannendste an der Arbeit, so Wassiliew.

Für die zeitintensive Methode des Improvisierens zahlen die Schauspieler einen hohen Preis: das Arbeitspensum geht an die Grenzen der physischen und psychischen Belastbarkeit, gearbeitet wird täglich bis tief in die Nacht, auch an Wochenenden. Das ist im Theater nichts Ungewöhnliches, unerläßlich vor allem vor Premieren. Doch ist für Wassiliew diese Arbeitshaltung Teil seiner didaktischen und psychologischen Methode: Ein rigoroser Rückzug aus quälendem russischem Alltag, den sich der westeuropäische Mensch trotz aller Informationen (oder das, was wir dafür halten) üher die ehemalige Sowjetunion nicht vorstellen kann.

Zweiter Teil des Projektes in Berlin: Hier hat der Teufel einen anderen Namen, da gilt es, sich zu schützen vor der Reizüberflutung, der Verführung durch die Warenwelt und den unendlichen Möglichkeiten der Zerstreuung. Daß der in Moskau so bewährte Arbeitsstil die Gruppe homogen zusammenhält und sie brauchbar macht für die Arbeit, die Wassiliew Freiheit nennt, funktioniert in Berlin nicht mehr.

Die kulturellen Unterschiede sind beträchtlich: Wenn Widerspruch grundsätzlich als Nichtverstehen interpretiert wird, ist der Diskurs unmöglich. Die Kritik Wassiliews am westlichen Pluralismus und dessen Unfähigkeit zu einem religiös motivierten Leben mutet an wie eine Aktualisierung des Uraltkonflikts zwischen Slawophilen und Westlern. Als Mikrokosmos, inmitten eines versinkenden Systems, steht seine Schauspieltruppe aus der »Schule der dramatischen Kunst« prototypisch für diesen Grundwiderspruch: Das »Natürliche Theater« Wassiliews, das die Chance gibt, Energie freizusetzen und Gebrauch zu machen vom einzig verfügbaren Luxus — der Zeit—, bedient sich (um zu funktionieren) der jahrhundertelang erprobten Instrumente der Repression — dienstbar allen Systemen in gleicher Weise. Er benennt so die Defizite einer Gesellschaft, die nie die Chance hatte, sich von autoritären Strukturen zu befreien. Die Defizite auf seiten der deutschen Schauspieler — Unverbindlichkeit und Mangel an Konzentrationswillen — führt Wassiliew darauf zurück, daß der Mensch der westlichen Zivilisation die Freiheit nicht begreift. »Der Mensch ist fürchterlich frei, diese Freiheit ist tragisch, weil sie Leid und Last auferlegt«, so Berdjajew, Religionsphilosoph und hervorragender Interpret Dostojewskis. Es ist gut, von Zeit zu Zeit auch daran erinnert zu werden, in dieser hoffnungslos vergnügungssüchtigen Gesellschaft. Differenzen lassen sich nicht dialogisch erledigen, aber man kann sie bewußt machen. Erst wenn die Motive, die Tradition und die Befangenheiten der anderen Kultur verstanden werden, kann ein Dialog einsetzen. Aber dem Regisseur ist an Diskusssionen wenig gelegen, auf Fragen reagiert er einsilbig und wortkarg. Er ist mißtrauisch gegen die Ratio. »Die menschliche Natur kann niemals rationalisiert werden«, so Berdjajew, »immer bleibt ein irrationaler Rest nach, und nur in ihm ist der Quell des Lebens.« In seinen Äußerungen über das Natürliche Theater spricht Wassiliew vom Verzicht auf die bedeutungsvolle Inszenierung auf das, was man die Lösung einer Szene nennt.

Intensität wird hergestellt durch Beschränkung, Askese, durch beharrliche Arbeit am Text und an den Dialogen. Abends werden die erarbeiteten Szenen präsentiert und anschließend von Wassiliew analysiert.

Das von Igor Popow entworfene Bühnenbild ist eine schiefe Ebene aus hellem Holz längs durch das gesamte Mittelschiff des Studios im Künstlerhaus Bethanien. Unbeabsichtigt wird diese derart zum Symbol für die Ungleichheit der Partner. Marie Wildermann

Öffentliche Präsentationen von Probeszenen aus dem Roman Der Idiot von Dostojewski: 1. Februar, 16 Uhr und 19 Uhr, Studio I; 2. Februar, 18 Uhr Studio I.

Benefizvorstellung der Schule der dramatischen Kunst, Moskau mit Fiorenza von Thomas Mann in russischer Sprache. 3. und 4. Februar 19 Uhr, Studio II.

Vorbestellungen: Internationale Regieseminare für Film und Theater Künstlerhaus Bethanien, Mariannenplatz 2, 1 Berlin 36, Tel.: 6148008

Ein Dokumentarfilm von Monika Reif-Vizier über das gesamte Projekt wird zur Zeit produziert.