Ein Blick zurück — ganz ohne Zorn

■ In der jüdischen Gemeinde Adass Jisroel berichtete der letzte DDR-Rabbiner, was ihn 1988 aus dem Land trieb — eine Kontroverse fand nicht statt, weil die damals Verantwortlichen nicht erschienen

Es ist eine Geschichte von Kabale und Liebe, von Judaismus und Stasiismus, von großer Politik und kleinen Eitelkeiten und ein bißchen Show-business ist auch dabei. Eine Ahnung von all diesen Geknäuel war am Donnerstag abend in der Gemeinde Adass Jisroel zu spüren. Besprochen wurde da eine Geschichte, die vor knapp vier Jahren das jüdische Gemeindeleben in der DDR wahrhaft erschütterte.

Die Rede ist von der Aufregung um Dr. Isaac Neuman, geboren 1922 in der Nähe von Lodz, Zwangsarbeiter, dann Auschwitz-Gequälter, später Rabbiner in den USA. Das Augenmerk sämtlicher Zeitungen aus Ost- und Westdeutschland richtete sich im Herbst 1987 auf diesen Mann, der nach Europa kam, um Rabbiner in Ost-Berlin zu werden. Er war nach 22 Jahren Pause der letzte Rabbiner, den die DDR hatte und wurde von den wenigen hundert religiösen Juden mit großen Erwartungen begrüßt. Aber der Traum eines lebendigen jüdischen Lebens in der DDR zerplatzte schon acht Monate später, im Mai 1988. Begleitet mit viel Lärm in den Zeitungen, kündigte er sein Amt und rauschte wieder nach Amerika ab: Die DDR sei »antisemitisch« und »antizionistisch« und die Stasi habe ihn auf Schritt und Tritt verfolgt.

Dies wurde flugs dementiert von den Repräsentanten der Jüdischen Gemeinden Ost und dem Staatssekretariat für Kirchenfragen. Richtig sei viel mehr, daß Neuman die »seelsorgerische Betreuung älterer Gemeindemitglieder abgelehnt« und die Juden außerhalb Ost-Berlins vernachlässigt habe. Wie zur Bestätigung der Vorwürfe erschien, daß der fünfundsechzigjährige Rabbiner die schönste Frau der Gemeinde, die blutjunge Tochter des stellvertretenden DDR-Innenministers heiratete.

Nach vier Jahren Funkstille und Deutschlandferne war Neuman am Donnerstag bereit, in einer öffentlichen Debatte über sein Intermezzo in Berlin zu reden. Und über die »Obrigkeiten«, die ihm damals das Leben schwer machten. Er wolle keine Namen nennen, »noch nicht« sagte er und wedelte mit dem Antrag zur Akteneinsicht in der Gauck-Behörde. Aber wer mit den »Obrigkeiten« gemeint war, wußten die Eingeweihten ohnehin.

Neumann redete von dem ehemaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Peter Kirchner, der sich aufgeführt hätte wie ein »Judenältester« und mit »Schikanen«, wie ungeheizten Gebetsräumen, Einlaßkontrollen bei Veranstaltungen, Verhinderung von Neuaufnahmen sowie der Bücher- und Postzensur seine Arbeit behindert habe. Und er redete von Irene Runge, seiner Meinung nach einst »Stasizuträgerin« und heute Aktivistin des Jüdischen Kulturvereins, die ihn erbittert verfolgt und ihren Auftraggebern dicke Dossiers geliefert habe. Selbstverständlich seien auch seine Haushaltshilfe und der Chauffeur Stasizuträger gewesen. Die DDR verlassen habe er, weil die von ihm initierten »offenen Gesprächskreise« von der »Obrigkeit« verboten wurden, die Judaistik- Seminare behindert und weil die Gemeindeführung ihn in seinen Protesten gegen »antisemitische Karrikaturen und Berichte« in der 'Berliner Zeitung‘ nicht unterstützt habe. Die Ernennung als Rabbiner sei nur aus »kosmetischen Gründen« erfolgt, um US-Kredite zu erhalten. Als »Claqeur« aber habe er sich nicht mißbrauchen lassen wollen. Eine kontroverse Diskussion über Neumans Blick zurück kam leider nicht zustande. Von den »Obrigkeiten« war trotz persönlicher Einladungen keine(r) gekommen. Anita Kugler