Irritationen um ein Nahost-Tabu

Die Entscheidung der Moskauer Nahost-Runde, eine Arbeitsgruppe zum Thema der zwei Millionen palästinensischen Flüchtlinge einzurichten, führt zu heftigen diplomatischen Bauchschmerzen  ■ Aus Tel Aviv Amos Wollin

Die israelische Regierung macht kein Geheimnis daraus: Sie ist überhaupt nicht beglückt, daß bei der Nahost-Verhandlungsrunde in Moskau eine Arbeitsgruppe zur Behandlung der Flüchtlingsfrage gebildet wurde — berührt das doch ihre sensibelsten politischen Nerven.

Das Problem, wo palästinensische Flüchtlinge wohnen dürfen, ist so alt wie der Staat Israel und hätte längst gelöst werden müssen. Die oft bekräftigte UNO-Sicherheitsratsresolution Nr. 194 vom 11. Dezember 1948 sieht eine Wahl zwischen Rückkehr und Entschädigung vor — ein schlafender Hund, den Israel am liebsten ruhen läßt.

Israelischen Unmut zog in Moskau insbesondere der US-Außenminister Baker auf sich. Er sagte den Palästinensern zu, ihre breite Delegation — die Exilpalästinenser einschließt — dürfe sich an den Arbeitsgruppen zu Flüchtlings- und Wirtschaftsfragen beteiligen, obwohl sie zu den Gesprächen in Moskau selbst nicht zugelassen war. Israel reagierte, indem es auf der vor der Madrider Nahostkonferenz mit den USA ausgemachten Zusammensetzung der palästinensischen Vertretung bestand, die nur Bewohner der Westbank (ohne Ostjerusalem) und des Gaza-Streifens vorsieht. Unter diesen Bedingungen wäre es exilierten palästinensischen Flüchtlingen nicht möglich, über die Zukunft palästinensischer Flüchtlinge zu verhandeln.

Diesen Bedingungen hatten die Palästinenser vor der Madrider Eröffnungskonferenz im vergangenen Herbst notgedrungen zugestimmt — aber sie wollten dieses Joch, wie auch das der gemeinsamen jordanisch-palästinensischen Delegation, baldmöglichst abschütteln. Die multilaterale Moskauer Konferenz bot dafür eine Gelegenheit, und sie scheinen sie genutzt zu haben, indem sie, wie bereits in Madrid, die öffentliche Meinung für sich einnahmen. Zwar muß solch ein Punktsieg als kurzlebig angesehen werden, denn die Wirkung von Appellen an Gewissen und Gerechtigkeitssinn der großen Mächte ist begrenzt. Doch sagte der palästinensische Delegationsleiter Feisal Husseini, die USA und Rußland hätten ihm und seinen Freunden zugesichert, in Zukunft bei Verhandlungen über Flüchtlings- und Wirtschaftsfragen Exilpalästinensern die Beteiligung zu erlauben. Aufgrund der ablehnenden Haltung Israels ist also abzusehen, daß James Baker irgendwann wieder als Schlichter auftreten muß.

Die Flüchtlingsfrage berührt den Kern des Nahostkonflikts. Die Flüchtlingsarbeitsgruppe, deren Vorsitz Kanada innehat, wird sich nach den Vorstellungen der USA, Rußlands und Israels allein mit der dauerhaften Ansiedlung palästinensischer Flüchtlinge befassen. Saudi- Arabien, Japan und die EG sollen dafür finanziell geradestehen. Da über eine Million Flüchtlinge in den israelisch besetzten Gebieten leben, wird Israel aber auch in allen Fragen, die Flüchtlingslager, Menschenrechtsverletzungen, Ausbeutung von Arbeitskräften und ähnliche Themen betreffen, unter penible Beobachtung geraten. Möglicherweise wird es sogar aufgefordert werden, Untersuchungskommissionen der Arbeitsgruppe die Einreise in die besetzten Gebiete zu gestatten.

Das offizielle Israel will Fragen der Flüchtlingsansiedlung überhaupt nicht im Rahmen der multilateralen Nahostverhandlungen diskutieren. Die Bildung der Flüchtlingsarbeitsgruppe stieß in Moskau anfänglich auf israelischen Widerstand; dieser beschränkte sich dann letztlich auf die Zusammensetzung der palästinensischen Delegation. Likud-Minister Moshe Kazav meint, die Flüchtlingsfrage müsse bilateral zwischen Israel und der jordanisch-palästinensischen Delegation behandelt werden. Er, wie auch einige seiner Kollegen, spricht von einer „Überrumpelung“ Israels durch die USA — die US-Vertreter hätten in Moskau die Flüchtlingsfrage aufgegriffen und auf die Bildung der Arbeitsgruppe gedrängt. „Wir halten die Amerikaner für unsere besten Freunde“, sagt er. „Aber manchmal tun sie Dinge, ohne uns vorher zu fragen. Damit überschreiten sie ihre Sonderrolle als ehrlicher Makler.“

Israel will Flüchtlinge „vermischen“

Auch die oppositionelle Arbeitspartei unterstützt die israelische Regierungsansicht, daß die Flüchtlinge mit internationaler Hilfe in ihren gegenwärtigen Aufenthaltsländern dauerhaft angesiedelt werden sollten, und will die USA davon überzeugt sehen. Es sei keine politische Frage, sondern eine rein humanitäre. Und ein „Recht auf Rückkehr“ gebe es unter keinen Umständen.

Das Nein zum Recht auf Rückkehr bedeutet nicht nur, daß palästinensische Flüchtlinge nicht mehr in ihre Geburtsorte im heutigen Israel zurückkehren können; exilierte Palästinenser sollen auch nicht in die besetzten Gebiete ziehen dürfen, selbst wenn ihre Familie dort lebt. Israelische Expertenplanungen wollen sie statt dessen unter der arabischen Bevölkerung ihres Gastlandes „verstreuen“ und mit ihr „vermischen“, damit sie keine „weiteren politischen Probleme“ verursachen.

Nach Angaben der UNO-Behörde UNRWA, die palästinensische Lagerbewohner mit Wohnraum, Lebensmitteln und Ausbildung versorgt, gab es 1984 weltweit mehr als zwei Millionen palästinensische Flüchtlinge. Davon lebte etwa ein Drittel in Lagern in den besetzten Gebieten oder den arabischen Nachbarländern Libanon, Jordanien und Syrien. Doch wird geschätzt, daß nur 60 Prozent der 428.000 Flüchtlinge im Gaza-Streifen auch in den dortigen Lagern registriert waren.

An erfolglosen Lösungsversuchen für das Flüchtlingsproblem mangelt es nicht. Seit 1949 hat Israel Entschädigung für zurückgelassene Immobilien angeboten; im Gegenzug verlangte es Entschädigung für die etwa 600.000 Juden, die unter Zurücklassung einer Menge Eigentums aus arabischen Ländern nach Israel ausgewandert sind. Die arabischen Regierungen wiesen diese Idee immer zurück. Vor Jahrzehnten schlug Israel vor, im Gegenzug für ein Friedensabkommen einer unbestimmten Anzahl von Palästinensern— man sprach von 100.000 — die Rückkehr zu gestatten. Daraus ist nie etwas geworden, ebensowenig wie aus grandiosen Projekten westlicher Experten zur wirtschaftlichen Entwicklung und dauerhaften Flüchtlingsansiedlung in arabischen Ländern. In neueren Zeiten versuchte Israel mehrmals vergeblich, Flüchtlinge zum Verlassen der Lager in den besetzten Gebieten zu bewegen — mit und ohne Gewalt — oder die Lager in „normale“ Ortschaften zu verwandeln. UNRWA schätzt, etwa ein Fünftel der von ihr betreuten Flüchtlinge dauerhaft umgesiedelt zu haben, und etwa ein weiteres Drittel teilweise.

Hinter all dem ist die profunde politische und emotionale Virulenz des Flüchtlingsthemas zu erkennen, sowohl unter Israelis wie auch unter Palästinensern. In Israel ruft es eine Kettenreaktion unterdrückter Schuldgefühle und aggressiver Ablehnung hervor. Die palästinensische Reaktion ist demgegenüber von Bitterkeit geprägt, verwurzelt in einer generationenalten Erfahrung von Leid und Entbehrung.