»Die DDR bestand nicht nur aus Stasi«

■ David Gill ist der Pressesprecher der Gauck-Behörde/ Er war bei der Stasi-Auflösung und beim Aufbau der Behörde dabei

Mitte. David Gill gehört derzeit zu den begehrtesten Pressesprechern der Bundesrepublik. Schon in der provisorisch eingerichteten Eingangshalle der Gauck-Behörde in der Behrenstraße, wo sich immer noch die Menschen stauen und drängen, um Akteneinsicht zu begehren, verlangen diverse ungehaltene Medienvertreter gleichzeitig mit ihm zu reden. Und wenn man dann glücklich in seinem Amtszimmer sitzt — in klotzigem Resopal-Mobiliar verdichtete DDR-Vergangenheit —, dann klingelt und kreischt das Telefon ununterbrochen. Der erst 25jährige Jurastudent gehört allem Anschein nach zu den Resistenten, aller Streß und auch eine tägliche Arbeitszeit von 12 bis 14 Stunden vermögen sein fröhliches Naturell nicht zu verwüsten. »Na ja«, sagt er, und ein spitzbübisches Lächeln blitzt auf, »es macht ja auch Spaß hier.«

Schließlich ist die Gauck-Behörde ein bißchen auch die Gill-Behörde. Damals noch Klempner-Geselle und mit Demokratie Jetzt sympathisierender Theologiestudent, geriet David Gill nach dem Sturm auf das Stasi-Hauptquartier Anfang Januar 1990 in das Bürgerkomitee Normannenstraße. »Eigentlich wollte ich nur eine Nacht Wache schieben«, lacht er, »aber schon nach zwei Tagen wählte man mich zum Koordinator und Sprecher, obwohl ich dort einer der jüngsten war.« Später arbeitete er im Volkskammerausschuß zur Auflösung der Stasi. Dort lernte er den Pfarrer und Ausschußvorsitzenden Joachim Gauck näher kennen. Eine Handvoll Leute nur, Gauck, Gill und noch ein paar, begannen schließlich mit dem Aufbau der jetzigen Behörde. Viel Improvisations- und Organisationstalent war nötig, aber das hat er ganz offensichtlich, der David Gill. Zuletzt leitete Referatsleiter Gill die Aktenrechercheure an und zeichnete Bescheide ab. Bis seinem ewig überlasteten Freund und Chef Joachim Gauck die ständigen Fragen der Medien zuviel wurden und er Anfang Dezember vergangenen Jahres Gill fragte: »Kannst du das nicht mal machen mit der Presse?«. Na klar doch. »Aber nicht auf ewig.« Schließlich will der Jurastudent auch mal zum Studieren kommen und sich nicht sein »Leben lang mit der Stasi beschäftigen«. Sein Theologiestudium hat er ja auch schon aus diesem Grund sausen lassen. Na ja, nicht nur deswegen: »In der DDR hätte ich schon Lust gehabt, auch wegen der politischen und gesellschaftlichen Freiräume in diesem Beruf. Aber in der Amtskirche Deutschlands ist das schon problematischer.«

Doch für die kleinen Freiheiten damals ist er der DDR-Kirche dankbar. Als sechstes von sieben Kindern einer Pfarrersfamilie in Herrnhut in der Oberlausitz aufgewachsen, hatte er »bessere Entfaltungsmöglichkeiten« als andere, schon bei der kirchlichen Jugendarbeit und später in einem kirchlichen Proseminar lernte er »zu diskutieren und zu organisieren«. Die »Glocke DDR« lüftete sich für ihn ein wenig, zumal die Herrnhuter Kirche der Böhmischen Brüder einen internationalen Geist atmete. David Gills Vater, der Bischof von Herrnhut, war als Missionskind in Surinam aufgewachsen, denn schon in der Kolonialzeit waren die Böhmischen Brüder in den karibischen Raum gezogen, um den Sklaven in Jamaica Lesen und Schreiben beizubringen und den Miskitos in Nicaragua das Evangelium.

Kein Wunder also, daß Sohnemann sich gesellschaftlich engagierte und für den »Riesenfortschritt« mitsorgte, daß »erst- und einmalig« in der Geschichte ein nationaler Geheimdienst auf diese Weise aufgelöst wurde. Auch David Gill, wiewohl »kein sentimentaler Typ«, fand »den 2.Januar bewegend«, als das Ehepaar Poppe und andere DDR-Oppositionelle ihre Akten endlich zu lesen bekamen. Gleichzeitig aber merkt er, daß er gut daran tut, einen gewissen »sachlichen Abstand« zu bewahren: »Nur so kann man durchstehen, daß auch jemand ins Zwielicht geraten kann, den man selbst kennt.«

Das Telefon rattert und randaliert schon wieder. Eine mitleidige Mitarbeiterin bringt Kaffee. »Milch? Tut mir leid, wir haben ja nicht mal einen Kühlschrank. Wir sind froh, daß wir überhaupt 'ne Kaffeemaschine besitzen.« — »Wir kriegen auch kein Funktelefon«, zuckt David Gill mit den Schultern. »Zu teuer.« Alles läuft über die Amtsleitung. Gill ist bundesweit wohl der einzige Pressesprecher, den man mit einem Fußmarsch schneller erreicht als per Telefon oder Fax.

Die ganze Gauck-Behörde ist ein Amt, das aus dem Koffer lebt. Allerdings zeigt sich der junge Mann, der immer gern ein Spitzbubenlächeln über Schlips und Kragen schweben läßt, durchaus optimistisch, daß der eklatante Personalmangel bald beseitigt werden kann. 700 Stellen hatte das Amt und seine Außenstellen im Dezember inne, 3.408 wurden ihm im Bundeshaushalt für 1992 zugesprochen, davon allerdings 1.200 mit einem sogenannten qualifizierten Sperrvermerk. Das heißt, daß für alle diese Stellen eine Extrabegründung abgegeben werden muß, warum sie gebraucht werden, »aber das wird uns nicht schwerfallen«. Schon im Januar wurden 300 neue Arbeitsverträge ausgestellt, »und die nächsten Monate geht es so weiter. Mehr ist auch gar nicht zu verkraften, denn die Leute müssen ja eingearbeitet werden.« Angesichts dieses »ständigen Aktionismus«, der bei ihm schon zwei Jahre anhält, wünscht sich der Pressesprecher manchmal, auch ein wenig Zeit zum Nachdenken zu haben. Zumal er selbst findet, »daß die DDR nicht nur aus Stasi bestand. Daß die Stasi an allem schuld gewesen sei, ist auch eine Mystifizierung.« Schließlich habe es noch die SED und den Staatsapparat gegeben. Deswegen findet er es »unerträglich, daß ein SED-Kreissekretär heutzutage salonfähiger ist als ein kleiner Stasi-Kraftfahrer«, und es ärgert ihn, daß ein Lothar de Maizière »berechtigterweise« gehen muß, »aber ein Modrow im Bundestag bleibt«. So hat er es nicht gesagt, aber so würde er es vielleicht sagen: Bei der Gerechtigkeit darf nicht improvisiert werden. Ute Scheub