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■ STADTMITTEOssis, die deutschen Orientalen!

Ossis, die deutschen Orientalen!

Natürlich stimmt die These nicht, wenn man Tausendundeine Nacht und Erdöl, Yoga und Zen oder ähnliche Klischees assoziiert beim Gedanken an den Orient, den Nahen oder Fernen Osten. Dennoch stellt sich für die Menschen im ganz nahen Osten dasselbe Problem, wie es etwa Arnold Hottinger für die arabische Welt oder der indische Philosoph Uberoi für Indien formuliert haben: »Wie können diese Gesellschaften (und jeder Einzelne) vom Westen lernen, ohne die eigene Identität aufzugeben?«

Intellektuelle und Politiker aus Ländern wie der Türkei, Ägypten, Indien beschäftigen sich seit rund 200 Jahren mit diesem Problem — ohne es wirklich gelöst zu haben. Solange sind sie auf der Suche nach den Technologien und Methoden, die die Überlegenheit des Westens ausmachen, und dem Versuch, sie für sich fruchtbar zu machen. Besonders fruchtbar für Einzelne wurden sie bisher aber nur zu dem Preis, die eigene Identität aufzugeben.

Ossis wie Orientalen haben dasselbe Grundproblem aufgezwungen bekommen, von ein und demselben System, oder, genauer gesagt, von den Menschen, die auf der Basis der überlegenen Technologien des »Westens« Politik machen und die Weltwirtschaft dominieren. Viele Ossis mögen diesen Vergleich nicht gerne hören, wollen lieber auf die Fremden runterblicken. Doch faktisch machen sie vergleichbare Erfahrungen: ökonomisch und kulturell überrollt zu werden; als rückständig belächelt oder gar denunziert; Anpassung wird verlangt. Sie entwickeln auch dieselbe Sensibilität etwa wie viele Araber nach dem Golfkrieg, die den Herrschaftswillen in diesem Krieg viel klarer erkennen als die Europäer, die sich in ideologischen Rechtfertigungen gefallen. Aber Sensibilität auch gegenüber arrogantem Alltagsverhalten der Kolonisatoren bzw. »Besserwessis« aller Schattierungen.

Die Unterschiede zwischen außereuropäischen und deutschen Orientalen werden deutlich, wenn man die obige Problemstellung im Sinne der Dritten Welt aktiver, als Zukunftsaufgabe formuliert: »Wie kann man vom Westen lernen und dies in einen eigenen Entwicklungsweg einbauen?« Für die Ossis hat diese Möglichkeit nur kurz aufgeblitzt. Solchen Versuchen (in der DDR hieß es: einen dritten Weg entwickeln, in der arabischen Welt einen islamischen Weg entwickeln) werden nämlich stets massiv und bewußt Knüppel in den Weg gelegt. Die Geschichte zeigt, daß die Institutionen staatlicher Politik und westlicher Wirtschaft solche Versuche nicht nur torpedierten, sondern regelmäßig verhinderten.

Der Anschluß Ostdeutschlands im Eilzugtempo hat vergleichbare ökonomische und administrative Mechanismen greifen lassen — die Ossis, die einen »dritten Weg« versucht haben, können ein Lied davon singen. Ein Unterschied ist natürlich, daß die Ossis einen dritten Weg nur kurze Zeit überhaupt versuchen konnten, nicht wie viele Menschen der Dritten Welt bereits jahrzehntelang. Dafür erlebten die Ossis diese Entwertung ihrer Werte in einer geradezu brutalen Schnelligkeit. Kein Wunder, daß dieser Prozeß von vielen Menschen dort als Schock erfahren wurde — abgemildert höchstens durch das Angebot, als »Deutsche« in den Kreis der Überlegenen aufsteigen zu dürfen. Dennoch ist dieses Assimilierungsangebot vielleicht der wichtigste Unterschied zwischen deutschen und außereuropäischen Orientalen.

Was geht uns Wessis das alles an? Zum Beispiel, daß Gesamtdeutschland seit der »Vereinigung« den USA wieder ein Stück ähnlicher geworden ist: erst jetzt haben auch wir die Dritte Welt wirklich im eigenen Land, da hilft auch keine »Festung Europa« mehr.

Thomas Hartmann ist Mitarbeiter des »Hauses der Kulturen der Welt«. In der taz-Rubrik »Stadtmitte« schreiben Persönlichkeiten zu den Problemen der zusammenwachsenden Stadthälften.

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