Flüchtlingsleben im magyarischen Wassergraben

■ Ungarn in der Rolle der Grenzwasserschutzpolizei/ Fast alle Flüchtlinge möchten weiterfliehen/ Fremdenhaß ist kein Massenphänomen, aber es gibt ihn

Rings um die sich langsam, aber sicher formierende Festung Europa befindet sich ein Wassergraben, der den praktischen Nutzen hat, den Feind fernzuhalten. In diesem Wassergraben sitzt — unter anderem — Ungarn, dem das Wasser sowieso bis zum Halse steht, und es tut sich sehr schwer mit der Rolle der Grenzwasserschutzpolizei. An der Grenze des kleinen Landes, das selbst wenig mehr als zehn Millionen EinwohnerInnen hat, wurden im letzten Jahr 102 Millionen Pässe von Ungarn und Ausländern kontrolliert. Bei dieser Menge von Ein- und Ausreisen ist es ziemlich hoffnungslos, ernsthafte Paßkontrollen durchzuführen, ohne den Verkehr lahmzulegen, obwohl es für die Festung Europa im Moment sehr angenehm wäre, wenn Ungarn als Vorposten fungierte und die lästige Aufgabe von Zurückweisungen und Abschiebungen wenigstens teilweise auf sich nähme.

Ungarn hat aber das Glück, sich in einer auffälligen und international bekannten miserablen Wirtschaftslage zu befinden, was das Land bisher als Durchgangsstation nach Westeuropa nicht besonders beliebt gemacht hat. Besonders nachdem sich in Drittweltländern rumgesprochen hat, daß das sogenannte Flüchtlingslager außerhalb von Budapest nicht viel mehr zu bieten hat als ein Notquartier für Arme in einem armen Land. Und wer an der Grenze geschnappt wird, kommt unvermeidlich dorthin. Bisher hatte das Lager insgesamt 7.000 Gäste — Ungarn ist ja erst seit zwei Jahren Mitglied bei der UNO-Flüchtlingskonvention —, und auf einmal kann es nur etwa 300 Personen beherbergen. Manche verbringen hier eine längere Zeit, obwohl die in Ungarn sich illegal aufhaltenden Ausländer theoretisch in sechs Tagen ausgewiesen werden sollten.

Die meisten Menschen meiden allerdings die Umgebung des berüchtigten Flüchtlingslagers, und Journalisten haben Hausverbot. Denn nach Berichten geht es im Lager nicht immer friedlich zu. Die sich zu Tode langweilenden, oft verzweifelten Wartenden demolieren die sowieso karge Innenausstattung immer wieder, reißen die Klos raus und verstopfen die Ausgüsse. Es ist auch schon zu Geiselnahmen gekommen, allerdings mit friedlichem Ausgang; und man mußte auch mit der Praxis aufhören, den BewohnerInnen ein paar Stunden währende Spaziergänge in die Umgebung zu gestatten — denn die Undankbaren spazierten auf dem kürzesten Weg zur Westgrenze.

Die Asylsuchenden aus nichteuropäischen Staaten haben nicht viele Chancen, in Ungarn ein Bleiberecht zu bekommen, denn das Land hat sich bei der UNO verpflichtet, nur Flüchtlingen aus Europa Asyl zu gewähren. Einen Flüchtlingsstrom aus der Dritten Welt könnte das Land auf keinen Fall verkraften — argumentieren die Politiker. Den nach Westeuropa strebenden Flüchtlingen bleibt nichts anderes übrig als der Versuch, zu entkommen und durch Österreich in die EG zu gelangen. An der österreichisch-ungarischen Grenze aber herrscht ständige „größte Alarmbereitschaft“; der Eiserne Vorhang ist nicht mehr da, dafür aber Grenzsoldaten in beinahe unbegrenzten Mengen. Im Jahr 1991 wurden 24.000 Flüchtende von den Magyaren, 5.000 von den Österreichern geschnappt.

Die ungarische Bevölkerung beäugt mit gemischten Gefühlen das brandneue Thema „Ausländer in Ungarn“. Zuerst wurden die Rumänen- Ungarn aus Siebenbürgen wohlwollend aufgenommen, besonders dann, wenn sie nur ein bißchen schwarz arbeiten und dann wieder nach Hause wollten. Diese „anderen“ Ungarn waren still, fleißig, sehr dankbar auch für Kleinigkeiten und verlangten nicht mal die Hälfte von dem etablierten ungarischen Stundenlohn. Aber dies wurde ihnen zum Verhängnis. Als immer mehr Ungarn arbeitslos geworden waren, wurde die Forderung lauter, den Schwarzarbeiterstrom zu stoppen. Es ist auch so geschehen. Die neue strikte Regelung an der Grenze und die ständigen Polizeirazzien in den Städten vertrieben den Großteil der ungewünschten Besucher.

Fremdenhaß ist kein Massenphänomen im heutigen Ungarn, aber es gibt Anzeichen dafür, daß die Leute auch dort für diese Krankheit anfällig sind. Vor ein paar Tagen wurde ein junger Ungar von einem Schwarzafrikaner mitten ins Herz gestochen, und die Freunde des Verstorbenen schworen Rache, den „Neger“ zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen. Tragikomischerweise kennen den Täter Hunderttausende von Ungarn persönlich: Er war Sandwichman in der Budapester Innenstadt, und da sich in Ungarn sehr wenige Nichtweiße aufhalten, war der Mann allgemein bekannt. P.P.