Die Zwei-Klassen-Gesellschaft in der EG

■ Der gemeinsame europäische Binnenmarkt und die Diskriminierungen der nichteuropäischen Ausländer ab 1. Januar 1993

Die Realisierung des Binnenmarktes ab 1. Januar 1993 wird für die 340 Millionen Einwohner der Europäischen Gemeinschaft große Erleichterungen mit sich bringen. In einem vereinigten Europa ohne Grenzen können sich nicht nur Kapital und Dienstleistungen frei bewegen, auch die Freizügigkeit für die Arbeitskräfte wird enorme Möglichkeiten für die EG-Bürger mit sich bringen. Nach dem Treffen in Maastricht im Dezember des Jahres 1991 kann man davon ausgehen, daß die EG-Staaten spätestens bis Ende Dezember 1992 285 grundlegende Gesetze vereinheitlichen werden können. Mit der Verwirklichung des Binnenmarktes in knapp einem Jahr werden für die Arbeitskräfte im gesamten Europa neue Möglichkeiten entstehen. Gegenwärtig leben innerhalb der Europäischen Gemeinschaft knapp 16 Millionen ausländische Arbeitskräfte, von denen fast sechs Millionen von außerhalb der EG-Staaten kommen. Die EG-Ausländer innerhalb der Europäischen Gemeinschaft werden ab 1. Januar 1993 die gleichen Möglichkeiten der Freizügigkeit wie die Einheimischen im jeweiligen Staat haben. Ein portugiesischer Landarbeiter hat ab 1. Januar 1993 die Möglichkeit, in der Bundesrepublik Deutschland jede Art der Erwerbstätigkeit auszuüben, wenn er innerhalb von 90 Tagen einen Arbeitsplatz oder eine Wohnung vorweisen kann. Der deutsche Wirtschaftsprüfer kann, wenn er die Sprache beherrscht, auch in Griechenland eine Niederlassung eröffnen. Der italienische Gastronom, der in der Bundesrepublik ein Restaurant eröffnen will, kann die dafür notwendigen Arbeitskräfte gleich in das Land mitbringen. Was aber können die knapp sechs Millionen Nicht- EG-Ausländer innerhalb der Europäischen Gemeinschaft? Die Freizügigkeit wird auch ab dem 1. Januar 1993 für die Nicht-EG-Ausländer keine Gültigkeit haben.

Der marokkanische Arbeitnehmer, der vielleicht eine Arbeitstätigkeit in Deutschland angeboten bekommt, kann von dieser Möglichkeit nicht Gebrauch machen. Die türkischen Arbeitnehmer, die aus Deutschland nach England zu einer neuen Arbeitstätigkeit gehen möchten, werden dieses Recht nicht haben. Nach dem Treffen in Maastricht ist nicht auszuschließen, daß die EG- Ausländer ab 1997 in dem jeweiligen Staat, in dem sie arbeiten, auch ihre Stimme bei den Kommunalwahlen abgeben können. Das aktive und passive Wahlrecht ist für die EG-Ausländer in den jeweiligen Staaten realistisch nahe. Während der spanische Arbeitnehmer, der vielleicht vor einem halben Jahr nach Berlin gekommen ist, seine Stimme bei Kommunalwahlen abgeben kann, wird der Nicht-EG-Ausländer, beispielsweise der Türke, der vielleicht seit 37 Jahren dort lebt, diese Möglichkeit nicht haben.

In jedem Falle wird sich nach der Verwirklichung des Binnenmarktes ganz eindeutig eine Zwei-Klassen- Gesellschaft der Ausländer in den jeweiligen EG-Staaten ergeben. 2,3 Millionen Türken innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, fast eine Million Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien sowie weitere Ausländer aus den Maghreb-Staaten werden nach der Verwirklichung des Binnenmarktes in einem vereinigten Europa ohne Grenzen unter nicht sichtbaren Grenzen sehr stark zu leiden haben. Der Visumzwang für verschiedene Nationalitäten bei den Staaten der Europäischen Gemeinschaft, das Warten auf das Schengener Abkommen, restriktive Ausländergesetze in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich, das Asylrecht in den jeweiligen EG- Staaten und zunehmende rassistische Tendenzen im Binnenmarkt sind die zukünftigen Erschwernisse für die Nicht-EG-Ausländer, die innerhalb der Europäischen Gemeinschaft gegenwärtig eine Vergangenheit von insgesamt 37 Jahren hinter sich gebracht haben. Sowohl in Brüssel bei der Europäischen Gemeinschaft als auch im Europaparlament in Straßburg müssen die Politiker und die Bürokraten sich langsam Gedanken über diese Entwicklung machen. Ein vereinigtes Europa wird in jedem Falle für sechs Millionen Nicht-EG- Ausländer enorme Engpässe mit sich bringen. Die Ausländer, besonders die aus Nicht-EG-Staaten, in der Bundesrepublik Deutschland haben kürzlich die Probleme bei der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten erlebt. Zunehmende Ausländerfeindlichkeit, Kürzung der für die Integration der Ausländer bei den Landesministerien zur Verfügung gestellten Mittel, Schwierigkeiten bei der Suche nach Arbeitstätigkeit oder Sozialwohnungen erwiesen sich während der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten als Probleme für die Nicht-EG-Ausländer. Die gleiche Gruppe, sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in anderen EG-Staaten, steht vor einem neuen Problem: vereinigtes Westeuropa. Prof. Dr. Faruk Sen

Der Autor ist Leiter des Zentrums für Türkeiforschung in Essen.