■ ZWISCHEN DEN RILLEN
: Querverbindungen - Neue Free-Jazz-Platten

Das ist ein Ereignis: Ein 65jähriger taucht auf aus dem musikalischen Underground, haut ab aus Chicago zu seiner ersten Europatournee, macht mit Live-Aufnahmen von dieser Tournee seine erste Platte bei einem renommierten Label. Ein Mann, der auf der Trompete anfing, über dreißig Jahre nur Vibraphon und Schlagzeug spielte, mit über fünfzig zum ersten Mal zum Saxophon griff, weil der Saxophonist seiner Gruppe partout nicht das spielen konnte, was der Leader von ihm wollte. Ein Glücksgriff. „Mann, ich hätte Bird werden können, wenn ich rechtzeitig auf dem Sax angefangen hätte“, sagt Hal Russell jetzt. Gottlob, er hat nicht „rechtzeitig“ angefangen. Er wurde nicht die hundertste Kopie von Charlie Parker. Er wurde der frischeste Free-Jazz-Saxophonist seit Albert Ayler und Pharaoh Sanders.

Hal Russell ist Jahrgang 26, wie Miles Davis und John Coltrane, die er gelegentlich begleitete. Anfang der sechziger Jahre macht er seine ersten Ausflüge ins freie Idiom, bleibt aber als Strandgut am Michigan-See zurück, als im Kielwasser des „Art Ensemble of Chicago“ die Free- Jazz-Fraktionen der Stadt weltweit bekannt werden. Sein NRG-Ensemble — die vier Mitspieler alle Jahrzehnte jünger als Russell — heimst lokale Anerkennung ein, nimmt für Eigenproduktionen und kleine Labels auf.

1990 kommt er zum ersten Mal nach Europa, nach Moers, Zürich — und Finnland. 1991 imponiert er beim Berliner Jazzfest. Die Aufnahmen der „Finnish/Swiss Tour“ klingen gebändigt gegenüber dem auch visuellen Eindruck des Live-Konzerts. Die röhrenden, splitternden Soli, oft im Wechsel mit dem noch wilderen Tenoristen Mars Williams, werden durch Ensemblepassagen überschaubar gegliedert, entwickeln sich aus klaren, heiteren Melodien, fetzen vor dem perkussiv peitschenden Rhythmus der beiden Bassisten Brian Sandstrom und Kent Kessler. In Ten Letters of Love katapultiert sich Mars Williams in ein kreiselndes, dynamisches Solo, flirrend, jeder Ton voller neuer Klangfarben, aus jedem neue Energien schöpfend.

Aber NRG ist nicht nur Energie, sondern auch Ironie und Spaß. Keine Egotrips bei dieser Band. Aylers Bezüge auf den frühen Jazz, auf Rhythm & Blues verschmelzen mit den abgeklärten harmonischen Linien Ornette Colemans, wiegende, minimalistische Vibraphonpassagen wie in Temporarily werden durch unmittelbar folgenden rohen Free-Sound erst richtig hörbar, ein Dröhnen, Summen und Hallen wie in einem bedrohlich funktionierenden E-Werk (For M.C.) kontrastiert mit dem spielerischen, geisterhaften Klamauk von Hal The Weenie. Es wurde Zeit für Hal Russell.

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Was freies Spiel in der intimen Einheit mit einem Partner oder einer Partnerin möglich macht, demonstriert der Wuppertaler Bassist Peter Kowald. Die neunzehn Stücke seiner Duo-CD, zwischen zwei und sechs Minuten lang, zwischen 1984 und 1989 in Europa, Japan und den USA mit neunzehn verschiedenen MusikerInnen aufgenommen, spiegeln ebenso sehr die Eigenart des radikalen Individualisten Kowald wie die Vielfalt seiner musikalischen Beziehungen wider. Kowalds Konzept (zugleich eine bündige Definition der weltweiten Free- Music-Szene): „Wir alle arbeiten mit Routinen (im guten wie im schlechten Sinn), die wir immer wieder überpüfen, verändern, erweitern und beim Zusammenspielen neu in Beziehung setzen. Durch unsere Erfahrung und gemeinsame Methode können wir auch zusammenspielen, wenn wir uns überhaupt nicht kennen.“

Eine der „Routinen“ Kowalds sind tiefe, gestrichene, mächtige Akkorde, ein orgelartiger Klang, der sich dramatisch beispielsweise von dem gellenden Sopran und dem heiseren Kneipengeflüster der Sängerin Diamanda Galas in Throat I abhebt. Ein anderes Markenzeichen Kowalds ist sein seinem Spiel paralleler Baßgesang, hier wirkungsvoll dem Lachen und Quietschen und dem sparsamen Schlagzeug von Andrew Cyrille gegenübergestellt.

Beide sind im Kontext aller Aufnahmen der Platte eher impressionistisch hingeworfene musikalische Skizzen. Eindrucksvoller sind jene Duette, die in der bewußt knapp gehaltenen zeitlichen Begrenzung mit ungeheurer Dichte gespielt werden. Dazu gehört das rührend schön betitelte Wundenkönigin und Fühlebär mit der Pianistin Irene Schweizer, das den Hörer einfängt in seinem Gang von lyrischen zu kompliziert gegenläufigen Improvisationen, von Irene Schweizer einfühlsam und präzis gespielt. Die Straight Angles Suite entwickelt Sopransaxophonist Evan Parker in knapp dreieinhalb Minuten im Zusammenspiel mit Kowald aus einem Knäuel (dank Zirkularatmung) kaum abreißender, rasend schnell gespielter Melodien zu einer wirklichen Mini-Suite. Das sind musikalische „Kerne“, die sich in anderen Zusammenhängen in stundenlange Improvisationen entladen könnten.

Kowald hat die einzelnen Duette überlegt aneinandergereiht. Musikalische Querverbindungen werden hörbar: vom Japaner Tadao Sawai und seinem hingetupften, ruhig fließenden Spiel auf dem zitherartig klingenden Koto über einen hart geschlagenen Baß nebst ebensolcher Gitarre (Derek Bailey) im nächsten Stück bis hin zum von griechischer Folklore beinflußten Zusammenspiel mit dem Klarinettisten Floros Floridis – eine Reise durch Zeiten und Welten in zwölf Minuten. Kontrastreich auch der Gegensatz zwischen einem hektischen Duett mit dem Cellisten Tom Cora voller schabender Geräusche (Going Crazy) und dem gelassenen, reinen Stakkato- Spiel des Posaunisten Conrad Bauer.

Kowald bietet ein konzentriertes Panorama der Welt seiner Geräusche, seiner Klänge, seiner Harmonien und Dissonanzen und seiner musikalischen Freundschaften. Konzentriertes Hören erschließt diese Welt.

Hal Russell NRG Ensemble: The Finnish/ Swiss Tour (ECM)

Peter Kowald: Duos Europa-America-Japan (FMP CD 21). Vertrieb: Helikon, Heuauerweg 21, 69 Heidelberg 1, 06221/71013

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