Kontrastprogramme

■ Problembewältigung in Eisenach, Rößl-Skandal in Meiningen: Thüringens Musiktheater auf dem Weg aus dem Abseits

In die thüringische Musiktheaterszene ist Bewegung gekommen. Jener Landstrich, der noch vor kurzem kulturell ziemlich abseits im Südwesten der DRR vor sich hindämmerte, liegt nun zentral in Europa. Daß ein neuer Wind durch die zum Durchgangsland mutierende Region weht, deutete dieser Tage eine Operetteninszenierung in Meiningen und die Uraufführung einer Kammeroper in Eisenach an.

Das westliche Thüringen verfügt mit dem Staatstheater Meiningen und dem Landestheater Eisenach über zwei traditionsreiche Kulturstätten. Johann Sebastian Bach besuchte, wohl auch aus geschäftlichen Interessen, Meiningen im Jahr 1717 mehrfach. Die Landeskapelle wurde nach der 1860 von Herzog Georg II. durchgeführten Theaterreform zu einem weithin beachteten Orchester (unter Chefdirigent Hans von Bülow). Liszt, Wagner, Strauss, Brahms, Reger und andere namhafte Tonkünstler standen (zum Teil häufig) am Pult der „Meininger“. Von der Aura solcher Tradition zehrt das Kulturleben der Kleinstadt — ziemlich ungebrochen — bis heute. In Eisenach gab es seit dem hohen Mittelalter Stadt- und Hofmusik. Doch erst nach einer großzügigen Schenkung des Kammgarnspinnereibesitzers und Bankiers Baron von Eichel- Streiber besitzt die Wartburgstadt ein eigenes Theater. Seit 1879 gibt es einen kontinuierlichen Spielbetrieb. Nach großen wirtschaftlichen Nöten in der Zeit zwischen den Kriegen stabilisierte das „Anrechtssystem“, besonders aber die Nähe zu den Automobilwerken, in den DDR-Jahren die Theaterarbeit: Für das Unterhaltungsbedürfnis der Werktätigen wurden viele Vorstellungen en bloc gebucht.

Mit der „Wende“ machte sich, wie überall im Osten, der Zuschauerschwund auch in Eisenach bemerkbar. Der Interimsintendantin Petra Morsbach, die auf den SED-Parteisekretär und Theaterleiter Günther Müller folgte, konnte den Abwärtstrend nicht aufhalten. Das scheint nun Jürgen Fabritius, seit einem Jahr im Amt, zu glücken. Der neue Chef war zuvor Generalintendant in Wuppertal und Rationalisierungsmanager am Staatstheater Stuttgart.

Für eine wieder ansehnliche Besucherstatistik sorgen vor allem „Publikumsmagneten“ wie Anatewka, Jesus Christ Superstar oder Mit Arsen und Spitzenhäubchen. Doch am Landestheater wird auch wieder auf künstlerischen Anspruch geachtet. Zur Saisoneröffnung inszenierte Jürgen Tamchina in der Geburtsstadt des Johann Sebastian Bach drei von dessen geistlichen Kantaten (freilich sind von solcher Umnutzung der Sakralwerke, die Herbert Wernicke in den achtziger Jahren in Kassel vorexerzierte, nicht alle gleichermaßen angetan). Jetzt folgte mit der Uraufführung der Kammeroper Leben lassen ein weiteres „Problemstück“.

Ingolf Huhn schrieb das Libretto für Leben lassen nach einem aus DDR-Zeiten stammenden und der Staatsdoktrin entsprechenden Hörspiel von Peter Gosse; Huhn ist Mitglied der Theaterleitung in Meiningen. Bernd Franke komponierte die vier Szenen mit Pro- und Epilog — eine Musik, wie sie zuletzt wohl bestenfalls an den Musikhochschulen der DDR gelehrt wurde und sich an die heroischen Zeiten der „Darmstädter Schule“ hält; einmal, als die kleinen Leute im verschüchtert-fröhlichen Feierabend gezeigt werden, klingt verstaubter Combo-Ton an.

Leben lassen deutet den Alltag im Deutschland des Jahres 1936 an. Das Sechs-Personen-Stück führt lauter irregeleitete und unschuldig unter der Diktatur lebende Menschen vor. Kein Täter, noch nicht einmal ein Mitläufer der NSDAP läßt sich blicken. Nur Vorsichtige und Zurückhaltende, ehrliche Spezialisten und unpolitische Frauen. Sie hoffen, daß es irgenwie aufwärts geht. In dieser Konstellation liegt die — möglicherweise bemerkenswerte — Parallele, die das Stück östlichen Ohren vor dem Hintergrund DDR-spezifischer Erfahrung nahelegt. Zwei andere Theater in den „neuen Bundesländern“ lehnten die Uraufführung der Franke-Oper ab; Eisenach hat sie riskiert. Das Stück mag westlichen Augen als bloßes Ablenkungsmanöver erscheinen. Jetzt, da sich das (Musik-)Theater dem Problem der Verstrickung ins Unrecht stellen kann, passiert das ausgerechnet an einem Beispiel, das mit dem Naheliegenden nur sehr bedingt zu tun hat.

Das siebzehnköpfige Instrumental-Ensemble arbeitete sich — bei der zweiten Vorstellung bereits vor einem sehr überschaubar gewordenen Publikum — wacker durch Frankes Notenfolge. Für die Sänger waren die Solopartien eine erhebliche Herausforderung. Ein Stück wie Leben lassen mag für ein Theater im Stadium der Rekonvaleszenz nach innen und außen die Funktion haben, aufzuschließen zu künstlerischen Erfahrungen, die im Westen selbstverständlich waren. Und nach dorthin öffnet sich das Landestheater Eisenach gegenwärtig mit einer massiven Werbekampagne: Schließlich ist im Umkreis von hundert Kilometern in Mittelhessen ja Theaterbrachland.

Der Kontrast zum schief angelegten Problemstück von Eisenach gab es im fünfzig Kilometer entfernt gelegenen Meiningen. Dort setzte der österreichische Regisseur Paul Flieder Ralph Bednatzkys Weißes Rößl in Bewegung — nach wie vor eine der beliebtesten Operetten. Der Operetten-Seligkeit bliebt die Fassade des Gasthofs am Wolfgangsee; drinnen aber hat sich eine Fast-Food-Kette breitgemacht. Sehr übel nahm die Publikumsmehrheit (und ein Teil der örtlichen Presse), daß die Handlung ins Jahr 2006 verpflanzt war: Kanzler Kohl absolviert im 24.Jahr seiner Amtszeit den Routineurlaub am Alpensee. In Meiningen wählt man Kohl — und war verstimmt.

Dabei übertrieb Fiedler ja noch nicht einmal, als er den Bergsee giftgrün leuchten ließ. Das ist nicht „Wahnsinn“, sondern leider schon die Möglichkeit. Dessen ungeachtet: Gegen den angeblichen „Zynismus“ regte sich lautstarker Protest: heftige Abgänge, Türenschlagen. Ein Skandälchen: „Wer glaubt, Theaterbesuchern durch ein Bombardement ungeschminkter Wahrheiten auf den rechten Weg zu helfen, ohne mehrheitsfähige Identifikationsmöglichkeiten Möglichkeiten zu schaffen, geht selbst im Wolfgangsee baden“, wütete es in der Lokalpresse. Dagegen läßt sich vor allem in die Waagschale werfen, daß die Schritte hin zu einem Theater, in dem es keine 98,27prozentigen „Identifikationsmöglichkeiten“ mehr gibt, im Namen der Freiheit von Kunst und Gesellschaft sein müssen — auch wenn sie in trübe Pfützen tappen. Frieder Reininghaus