Mit offenen Armen

■ „Nathan der Weise“, eine kluge Inszenierung in Cottbus

Ein gebeugter Mann in Schwarz, mit unruhigen Augen und einem biegsamen Körper im Spotlicht. Er denkt schnell. Er ist listig. Das ist nicht der schwere Held, der aus dem unbewegten Körper die Fülle des Wohllauts aufsteigen läßt, jeder Gedanke für das Poesie-Album. Der weise Nathan in der Inszenierung von Konrad Zschiedrich am neuen alten Theater in Cottbus heißt Lutz Günzel. Er ist der Held des schweren Abends.

Die ewige Palme ist dürr und verkohlt. Sie ragt bis unter den schwarzen Bühnenhimmel. Keine südliche Hitze, verbrannte Kriegserde, trockener Sand ragt spitz bis in die erste Parkettreihe. Eine Atmosphäre, in der man den Kampf erwarten muß. Die Kassen des Saladin sind leer, Mißtrauen und Spitzelei gehören zum Alltag, religiöse Verwirrung und Fanatismus bestimmen das Verhältnis zwischen den Menschen.

Das Haus des reichen Juden Nathan ist ein Raub der Flammen geworden, und in diesen steht Nathan, heimkehrend nach guten Geschäften aus Babylon. Einsam und voller Würde, wie seine Handlungen, die nur als Gespenster der Vergangenheit in die Gegenwart treten. Die Geschichte ist bekannt.

Zurück zu dem Mann im Spot. Bevor Nathan zu der bekannten Ring- Parabel ausholt, ist da dieser Moment der Besinnung auf Entscheidung. Lutz Günzel zeigt hier, mutig vorbei an allen Klischees, einen unruhigen, auch ängstlichen Mann, der die weise Geschichte nicht parat hat, sie fällt ihm im letzten Augenblick ein. Aufatmen. So könnte es klappen. Das Besinnen kommt da weniger aus der Anerkennung jüdischer Weisheit. Deutlich wird vielmehr, daß dieser Mann eine Erfahrung hat. Im Abwehren des Angriffs, im Umgang mit der eigenen Angst und den Gefahren, denen er sein Leben lang ausgesetzt war. Die Worte des Patriarchen klingen an und nach: „Tut nichts! Der Jude wird verbrannt.“

Immer wieder stürzen Menschen aufeinander zu, deutet sich eine Umarmung an, bleiben ausgebreitete Arme in der Luft hängen, eine Sekunde zu lang. Der Moment vor der Berührung, vor dem Vertrauen. Recha und Nathan, Nathan und Tempelherr, Nathan und Saladin, wieder und wieder die ausgestreckten Arme, wie vor dem Versuch, zu fliegen.

In dieser Welt findet keine Versöhnung statt. Bestenfalls treten Momente der Ruhe ein. Man hört Argumente und spürt, sie werden mit Füßen getreten werden. Es ist nicht die Zeit, in der man nach Idealen leben kann.

Sultan Saladin (Michael Becker) und seine Schwester Sittah (Simone Ritscher) schweben als Herrscherpaar wie auf einem fliegenen Teppich, lassen sich herab, pendeln zwischen Realitätsferne und adeliger Hysterie. Nicht wirklich gefährlich. Oder doch?

Daja (Erika Kerner), eine deutsche Gouvernante im Heilsarmee- Schick, voller Energie und Mutterwitz. Auch die muß ihrem Glauben glauben. Nach Europa will sie zurück. Hardy Halama spielt den jungen Tempelherrn. Ein bockiger Kämpfer im Stil von HighlanderIII, der will und nicht will; sein Glaube wird brüchig, er steht nackt da, nachdem er sich das Glaubenszeichen aus der Brust operiert hat. Rechas (Heike Meyer) fast inzestuöse Liebe zum Vater macht den Jungen uninteressant im Moment der Begegnung. Auch hier geöffnete Arme in der Erstarrung. Das Erkennnen der Verwandtschaft wird zum Augenblick der Impotenz.

Ein merkwürdiger Schluß. Plötzlich ist es egal, wer wessen Tochter ist, daß potentielle Liebespaare sich als Brüderchen und Schwesterchen entpuppen, die europäische Gouvernante wohl im Land der Muselmänner bleiben muß, und es einen liebenden Vater ohne Tochter gibt. Das letzte Mal recken sich Hände in die Luft, Recha wird auf Saladins Teppich entschweben, Nathan bleibt zurück, bittend, beschwörend oder klagend.

Das ist ein Bericht, der viel verschweigen muß. Denn Konrad Zschiedrich ist eine sehr reiche und dabei wohltuend unaufwendige Inszenierung gelungen, voll von gedanklichen Möglichkeiten, ohne gedanklichen Zwang. Die Schauspieler stehen im Mittelpunkt, und man sieht eine starke Ensembleleistung. Das Bühnenbild von Joachim Vogler trägt zur Konzentration bei, es wird in einem Raum gespielt, was mit wenigen Elementen — Schrägen, Treppe, Palme, Stein und einer Farbenglut am Horizont — Raum schafft und läßt.

Das Stadttheater Cottbus ist zum Brandenburgischen Staatstheater geworden. Das war die erste Premiere, mit der man Staat machen kann. Annette Reber

Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. Regie: Konrad Zschiedrich, Bühne: Joachim Vogler. Mit Michael Becker, Simone Ritscher, Erika Kerner, Hans-Peter Jantzen, Hardy Halama und Lutz Günzel. Staatstheater Cottbus. Nächste Aufführungen: 9. und 23.Februar.