Laßt uns nicht nur vom Elend reden

Zu Besuch in der russischen Stadt Puschkin und dem nahegelegenen Staatsgut „Schuschare“, einer reichen Sowchose, die jetzt ums Überleben kämpft. Die Gefühle der Städter schwanken zwischen Zukunftsvisionen und Angst vor der Bewältigung des nächsten Tages  ■ VON PLUTONIA PLARRE

Mit hochrotem Gesicht umklammert der Präsident des Puschkiner Stadtparlaments, Anatoli Somsonow, den Telefonhörer und schreit in die Muschel. Was er sagt, übersetzt die Dolmetscherin leider nicht. Plötzlich knallt der Hörer auf die Gabel. Somsonow streicht sich die schütteren Haare auf seiner Stirnglatze gerade, rückt sein Jackett zurecht und kommt mit einem charmanten Lächeln an den Konferenztisch zurück. „Es tut mir furchtbar leid, aber Sie können keine Rinder und Schweine auf den Sowchosen besichtigen, weil heute eine Quarantäne verhängt worden ist.“ Das einzige Angebot, das er mir machen könne, so der Präsident, sei eine Fahrt an den Ställen und Feldern vorbei zur Wohnsiedlung der Sowchose „Schuschare“. Aber das lohne sich für mich wahrscheinlich nicht, sagt er mit einem diskreten Seitenblick auf seine Uhr. „Doch, doch!“ beteuere ich schnell, um wenigstens einen kleinen Eindruck von einem der fünf landwirtschaftlichen Großbetriebe am Rande der 105.000 Einwohner zählenden Stadt Puschkin bei Sankt Petersburg zu erhaschen.

Im schwarzen Wolga geht es hinaus aufs Land. Die schlaglochübersäte Straße ist mit einer dünnen Schnee- und Eisschicht bedeckt. In den Kurven muß der Fahrer kräftig gegenlenken, um nicht ins Schlingern zu geraten. Anatoli Somsonow, der in Trenchcoat und Schiebermütze neben der Dolmetscherin auf der Rückbank sitzt, erklärt, daß auf den Feldern rechts und links des Weges Kartoffeln und Kohl angebaut würden. Endlose, schneebedeckte Ackerflächen, aus denen hin und wieder eine dunkle Scholle lugt, ziehen vorbei. Auf den riesigen Monokulturen wächst kein Baum oder Strauch. Wir passieren eine Torfstechanlage, Bauruinen, die neben achtlos abgeladenen Betonteilen vor sich hingammeln und nicht so aussehen, als würden sie jemals fertiggestellt, und schließlich langgezogene Flachbauten: „Das sind die Rinderställe“, sagt Somsonow und zieht mit einem lausbübischen Grinsen die Schultern hoch: „leider Quarantäne.“ Weit und breit, es ist ein Uhr mittags, ist kein Mensch zu sehen, nur vor einem Friedhof auf der rechten Seite hat sich eine kleine Ansammlung gebildet.

Wir haben die Wohnsiedlung der Sowchose „Schuschare“ erreicht — ein großes Areal von Hochhäusern, die in gutem Zustand sind. An einem Neubau wird kräftig gearbeitet. „Besuchen wir den Direktor“, schlägt Somsonow vor und gibt dem Fahrer vor einem zweistöckigen Haus ein Zeichen zum Halten. Im Treppenflur begegnen wir einem Büroangestellten, der mit seiner Teetasse gerade auf dem Weg zum Wasserhahn ist. Auf die Frage nach dem Zimmer des Direktors erntet Somsonow eine unwirsche Antwort. Die zugewiesene Tür ist verschlossen. Auch die danebenliegenden Zimmer sind versperrt. Somsonow blickt auf die Uhr, drückt Klinke um Klinke, wird immer nervöser, rennt die Treppe runter und wieder rauf und stolpert dabei vor lauter Hektik über seine eigenen Beine. „Der Direktor ist leider gerade nicht da, versuchen wir beim Gewerkschaftsvorsitzenden unser Glück“, schlägt er mit einem gewinnenden Lächeln vor.

„Das Beste ist, wir bleiben alle zusammen“

Der Gewerkschaftsvorsitzende, Viktor Iwanowitsch Jeroschin, der in einem warmen Büro am Schreibtisch sitzt, scheint von dem spontanen Besuch alles andere als erbaut zu sein. Notgedrungen bittet er uns, Platz zu nehmen, antwortet dann aber doch bereitwillig auf die Fragen, nachdem er sich eine Brille mit dunklen Gläsern auf die stark gerötete Nase gesetzt hat.

Auf der Sowchose „Schuschare“ arbeiten 1.407 Menschen, davon 860 Frauen. Der landwirtschaftliche Großbetrieb, so Jeroschin, „ist sehr reich“. „Den Menschen hier geht es gut. Wir haben gute Häuser, zwei Kindergärten, drei Geschäfte und einen Kulturpalast mit einem Swimming-Pool, Fitness-Center und einen großen Saal für Film- und Musikvorführungen.“ Der Hauptertrag neben dem Anbau von Kartoffeln und Gemüse werde durch die 2.300 Kühe und mehrere tausend Schweine erwirtschaftet. Mit dem Futter für die Tiere sei es bisweilen schwierig, aber im Notfall springe der Staat ein. Bis Ende 1991 habe eine Melkerin 400Rubel verdient. „An dem Problem der Berechnung der neuen Löhne“, so Jeroschin, „arbeiten wir zur Zeit.“ Seit der Freigabe der Preise entsprechen 400Rubel umgerechnet etwa zweieinhalb Kilo Schweinefleisch, das in privaten Läden in Puschkin für rund 150Rubel pro Kilo über den Ladentisch geht. Der offizielle Umtauschkurs in Rußland liegt zur Zeit bei 72Rubel für eine Mark. Danach befragt, wie die Arbeiter der Sowchose so überhaupt noch überleben könnten, verweist der Gewerkschaftsvorsitzende darauf, daß „alle Kameraden“ Milch, Fleisch und Kartoffeln und andere Produkte von der „Schuschare“ bekämen. Kameraden ist offenbar das neue Wort für Genossen. „Jetzt Herren zu sagen, wäre doch merkwürdig“, findet die Dolmetscherin. Auch die Rentner, die früher auf der Sowchose gearbeitet hätten, würden mit Lebensmitteln unterstützt. Das größte Problem sei jetzt die anstehende Privatisierung. „Ich versuche den Menschen zu erklären, was das ist, aber sie verstehen es nicht. Unsere Ziel ist, daß alle, die hier arbeiten, zusammenbleiben. Das ist besser, als wenn sich einzelne auf einem Stück Land selbständig machen“, glaubt der Gewerkschaftsfunktionär.

Ein unruhiger Blick von Präsident Somsonow auf die Uhr mahnt zur Rückkehr nach Puschkin. Zuvor will er der Reporterin aber unbedingt noch den Kulturpalast und den 50 Meter langen, stark nach Chlor riechenden Swimming-Pool zeigen, in dem ein einsamer Schwimmer seine Bahnen zieht. „Nach Schulschluß ist es hier ganz voll“, betont Somsonow unter zustimmendem Nicken von Jeroschin. Am Auto verabschiedet sich der Gewerkschaftsfunktionär mit einem kräftigen Handschlag. Als ich ihm durch das Fenster noch einmal zunicke, hebt er automatisch die rechte Faust zum Gruß.

„Am liebsten würden wir die Deutschen sehen“

Auf der Rückfahrt nach Puschkin unterhalten wir uns über die Geschichte der Stadt. Die frühere Sommerresidenz der Zaren hieß weiland noch Zarskoje Selo, Zarendorf. Zwischen 1718 und 1720 entstand hier ein riesiger Palast für Katharina, die deutsche Frau Peters des Großen. Die Stadt ist von ausladenden Parkanlagen durchzogen, in einer Eremitage des Katharinenpalastes verbrachte der Dichter Alexander Sergejewitsch Puschkin von 1811 bis 1817 seine Schulzeit. Nach der Oktoberrevolution wurde das Zarendorf in Djetskoje Selo, Kinderdorf, umbenannt, und die Kinder in die Schloßanlagen zur Erholung geschickt. 1937, am hundertsten Todestag Puschkins, erhielt die Stadt den Namen des russischen Literaten und Lyrikers. Während des Zweiten Weltkriegs war Puschkin zweieinhalb Jahre lang von den Nazis besetzt. Jeder dritte Einwohner fiel den Deutschen zum Opfer, während das benachbarte Leningrad 900 Tage von der Wehrmacht belagert wurde, wobei über 600.000 Menschen ums Leben kamen. Als Puschkin im Januar 1944 befreit wurde, lag die Stadt in Schutt und Asche. Fünfzig Prozent der zerstörten Palastanlagen wurden inzwischen wieder rekonstruiert und neue Wohnhäuser errichtet. Jedoch bis heute verschwunden ist das Bernsteinzimmer, das die Nazis aus dem Puschkiner Katharinenpalast geraubt hatten.

Auf die Frage, ob Puschkin ebenso wie Leningrad wieder seinen alten Namen erhalten soll, berichtet Somsonow, daß es darüber demnächst ein Referendum geben wird. Wie er selbst sich entscheiden werde, wisse er noch nicht. Puschkin sei doch ein beliebter Dichter, aber der Name Zarendorf „zieht Touristen an“.

Der 46jährige Anatoli Somsonow war 1989 als Abgeordneter ins Puschkiner Stadtparlament gekommen. 1991 wurde er zum Präsidenten gewählt und löste damit Juri Nikiforow ab, der seither Bürgermeister von Puschkin ist. Im Gegensatz zu Nikiforow, einem typischen Funktionär, war Samsonow nie Mitglied der KPdSU noch irgendeiner anderen Partei, er fühlt sich der „Bewegung demokratisches Rußland“ verbunden. Der hagere Mann hat schon viel von der Welt gesehen. Als er einen Monat alt war, ging sein Vater für vier Jahre als Leiter einer Fabrik ins besetzte Österreich. Somsonow studierte in der Sowjetunion Physik, war in einem Labor für Raketentechnik tätig und durchkreuzte in den 80er Jahren auf einem Forschungsschiff die Weltmeere, um „elektrodynamische Studien“ zu betreiben. Seinen Entschluß, in die Politik zu gehen, begründet er damit, daß die alten Funktionäre von „intellektuellen, ökonomisch denkenden und handelnden Menschen abgelöst“ werden müßten. Neben der Privatisierung der Betriebe sei jetzt die wichtigste Aufgabe, die Kulturdenkmäler der Stadt für den Tourismus zu erschließen und mit der entsprechenden Infrastruktur an Hotels und Restaurants neue Arbeitsplätze zu schaffen.

Im Rathaus wartet schon Somsonows Mitarbeiter Vladimir Adikajew, der sich als „Projektleiter“ vorstellt. Nach der ganzen Berichterstattung über die Hilfsaktionen für Rußland findet er es an der Zeit, daß endlich einmal über ein „zukunftsträchtiges wirtschaftliches Projekt“ gesprochen wird: die Einrichtung eines Technologie-Parks, mit dem er internationales Kapital nach Puschkin holen möchte. In dem vierseitigen allgemein gehaltenen Konzept, das Adikajew mit Hilfe eines Wörterbuchs ins Deutsche übersetzt hat, ist von der Einrichtung von Forschungsinstituten für landwirtschaftliche und Unterwassertechnologien sowie der Ansiedelung von Joint- venture-Betrieben die Rede. Auch an ein Hotel und Kongreßzentrum, Rennbahn, Swimming-Pool, Geflügelgroßfarm, Milchkühe und Schweinemast sowie an eine „Treibhauswirtschaft mit Gefrierfach und Konservierung“ ist gedacht, damit die Investoren auch ja keinen Hunger leiden.

Als voraussichtliche Kosten hat Adikajew 250 bis 300 Millionen US- Dollar plus 200 Millionen Rubel veranschlagt. Da der maximale Beitrag der ausländischen Partner jedoch nur 70 Millionen Dollar betragen dürfe, müsse der Rest „durch den Betrieb des Hotels und anderer Objekte“ hereingeholt werden, heißt es in dem Konzept, das bislang nur auf dem Papier steht. „Wir suchen nach einem Consulting und einem Manager, die uns bei der Realisierung helfen, und natürlich nach Partnern“, sagt Adikajew. „Am liebsten würden wir das mit den Deutschen machen. Ich bin sicher, daß der Techno-Park profitabel wird.“

Einstweilen lassen sich die Deutschen in Puschkin aber nur dann blicken, wenn sie als Touristen für ein paar Stunden von Petersburg zur Besichtung der Zarenpaläste in die Stadt kommen, oder wenn sie, wie dieser Tage geschehen, Hilfspakete für die Bevölkerung bringen.

Das Berliner Bezirksamt Neukölln unterhält mit Puschkin eine Städtepartnerschaft. Schon häufiger wurden Lebensmittel und Medikamente geschickt, ein Ärzteaustausch organisiert. Die jüngste Lieferung von 1.000 Paketen war die Antwort auf einen Hilferuf von Bürgermeister Nikiforow nach Spenden für Rentner und kinderreiche Familien sowie Tierfutter für die Sowchosen. Er garantiere dafür, so Nikiforow, daß die Pakete auch wirklich bei den Bedürftigen ankämen.

Peinlichkeiten am Rande

Davon wollten sich die Berliner nach den vielen Meldungen über abhanden gekommene Hilfssendungen jedoch lieber selbst überzeugen und reisten gleich mit einer 18köpfigen Delegation an. In einem von der Stadt zur Verfügung gestellten Kleinbus wurden die Mitarbeiter des Bezirksamts und Journalisten von Presse, Funk und Fernsehen von Verteilstelle zu Verteilstelle chauffiert, wo ehrenamtliche Helfer die Pakete ausgaben. Erst wenn der Ausweis vorgezeigt und der Name auf der Liste abgehakt war, durfte ein Paket mitgenommen werden. Die Kontrollen durch die Journalisten mit ihren Mikrophonen und Kameras glich bisweilen einer regelrechten Belagerung.

Viele Paketempfänger nahmen es bescheiden hin und bedankten sich mit gerührten Worten. Andere aber reagierten empört. „Es ist schlimm genug, daß wir in Rußland soweit gekommen sind, daß wir diese Pakete brauchen, aber noch demütigender ist es, dabei auch noch kontrolliert und dazu noch interviewt und fotografiert zu werden.“ Danach war dem Neuköllner Pressesprecher und Leiter der Puschkin-Hilfe, Eike Warweg, klar, daß die nächsten Transporte „leise und diskret“ vonstatten gehen müßten. Wenn alles so läuft wie geplant, wird in Zukunft alle zehn Tage eine sowjetische Militärmaschine mit Hilfsgütern von Berlin nach Puschkin fliegen. Auch ein Austausch von Verwaltungsangestellten, Künstlern und die Einrichtung einer Suppenküche sind vorgesehen. Die 400 Tonnen Futtermittel, die von einer Hamburger Getreidemittel-Firma gestiftet wurden, werden direkt von dort mit Lkw nach Puschkin gebracht.

Natürlich sei man für die Hilfe sehr dankbar, betonte Präsdent Somsonow nach der Aktion. „Aber wir sterben hier nicht, die Menschen haben zu Hause etliche Lebensmittel gehortet.“ Das Problem in Puschkin ist nicht, daß es in den Geschäften keine Waren gibt, sondern daß diese, gemessen am Einkommen der Leute, unerschwinglich sind. Von einer Rente von 350 Rubel oder einem Krankenschwestern-Gehalt von 400 Rubel kann man sich einfach kein Kilo Butter für 150 Rubel im Privathandel kaufen. In den staatlichen Geschäften sind bestimmte Grundnahrungsmittel gegen Vorlage eines Lebensmittelcoupons etwas kostengünstiger zu haben. Aber dementsprechend schnell sind die Produkte, vor allem Fleisch und Milch, auch vergriffen.

Alexander Ratnikow, ein Macher von „Radio Puschkin“, das aus der Bewegung Demokratisches Rußland entstanden ist, wußte von einer Anekdote unter schlangestehenden Einkäufern zu berichten: „Zetteln wir doch schnell einen Krieg an der deutschen Grenze an, lassen uns besetzen und ergeben uns sofort. Dann geht es uns genauso gut wie den Ostdeutschen.“

Wer berufstätig ist und keine Großmutter zum Schlangestehen hat, ist auf die privaten Läden angewiesen oder wird so wie die Lehrerin Irina Mischtehenkowa zur Vegetarierin. „Manchmal hasse ich die alten Frauen richtig, die morgens mit ihren leeren Einkaufstaschen den Bus verstopfen, so daß ich Probleme habe, rechtzeitig zur Arbeit zu kommen.“ Immer häufiger fragt sich die alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen, wie lange sie den täglichen, stundenlangen Einkaufsstreß noch mitmachen soll. Und so langsam beschleicht die 46jährige Wolgadeutsche zunehmend der Gedanke, ob sie nicht in die Bundesrepublik aussiedeln sollte. Anatoli Somsonow ist da optimistischer. „Die Hauptsache ist, daß es uns schnell gelingt, wirtschaftliche Hilfe und Know-how nach Puschkin zu holen.“